Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschluss der Tierhalterhaftung. Handeln auf eigene Gefahr. Hundepension. Beaufsichtigung des Tieres. Mitursächliches Fehlverhalten des Geschädigten. Gesichtsverletzung. Spezifische Tiergefahr. Freiwillige Risikoübernahme. Gefährdungshaftung. Aufsicht. Tiergefahr aus beruflichen Gründen. Mitverschulden
Leitsatz (amtlich)
Ein Ausschluss der Tierhalterhaftung wegen Handelns auf eigene Gefahr kommt auch dann regelmäßig nicht in Betracht, wenn der Geschädigte einen Hund für mehrere Tage in seiner Hundepension aufgenommen und für diese Zeit die Beaufsichtigung des Tieres übernommen hat (Fortführung von BGH, Urt. v. 17.3.2009 - VI ZR 166/08, VersR 2009, 693).
Ein für die Verletzung mitursächliches Fehlverhalten des Geschädigten ist ggf. nach § 254 BGB anspruchsmindernd zu berücksichtigen.
Normenkette
BGB § 833
Verfahrensgang
LG Oldenburg (Urteil vom 30.07.2013; Aktenzeichen 9 S 239/13) |
AG Vechta (Entscheidung vom 04.04.2013; Aktenzeichen 11 C 147/13) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 9. Zivilkammer des LG Oldenburg vom 30.7.2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin betreibt gewerblich eine Hundepension. Der Beklagte ist Hundehalter. Er übergab der Klägerin am 15.9.2011 seine Hündin, eine Border-Collie-Mischlingshündin, zur zehntägigen entgeltlichen Betreuung. Die Klägerin macht geltend, der Hund habe sie am 17.9.2011 in die Ober- und Unterlippe gebissen, als sie ihn nach einem Spaziergang habe ableinen wollen. Sie begehrt im Wege der Leistungs- und Feststellungsklage Ersatz materiellen und immateriellen Schadens. Das AG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Mit der vom LG zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 2
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, ein Schadensersatzanspruch der Klägerin, der sich allein aus § 833 Satz 1 BGB ergeben könne, sei nicht gegeben. Es könne dahinstehen, ob der Hund des Beklagten der Klägerin die Gesichtsverletzung zugefügt und ob sich dabei ggf. eine spezifische Tiergefahr verwirklicht habe. Es könne auch offenbleiben, ob Anhaltspunkte für die Annahme eines stillschweigenden Haftungsausschlusses bestünden. Die Tierhalterhaftung sei jedenfalls unter dem Gesichtspunkt freiwilliger Risikoübernahme ausgeschlossen. Sie sei mit dem Schutzzweck des § 833 Satz 1 BGB nicht vereinbar, weil die Klägerin die Herrschaft über das Tier, mithin die unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit für mehrere Tage gewerblich und vorwiegend im eigenen Interesse und auch in Kenntnis der damit verbundenen Gefahren übernommen habe. Demgegenüber sei dem Beklagten in dieser Zeit eine Einflussnahme auf seinen Hund vertragsgemäß nicht möglich gewesen.
II.
Rz. 3
Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die den Beklagten als Halter seines Hundes grundsätzlich treffende Tierhalterhaftung kann im Streitfall nicht mit der Begründung verneint werden, sie sei wegen freiwilliger Risikoübernahme durch die Klägerin mit dem Schutzzweck des § 833 Satz 1 BGB nicht vereinbar.
Rz. 4
1. Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob sich die Klägerin die Gesichtsverletzung durch einen Biss des Hundes des Beklagten zugezogen hat. Dies ist deshalb im Revisionsverfahren zu ihren Gunsten zu unterstellen.
Rz. 5
2. § 833 Satz 1 BGB begründet eine Gefährdungshaftung des Tierhalters für den Fall, dass ein anderer durch das Tier in einem der in dieser Vorschrift genannten Rechtsgüter verletzt wird. Der Grund für die strenge Tierhalterhaftung liegt in dem unberechenbaren oder aber auch instinktgemäßen selbsttätigen tierischen Verhalten und der dadurch hervorgerufenen Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum Dritter, also der verwirklichten Tiergefahr (vgl. BGH, Urt. v. 6.7.1976 - VI ZR 177/75, BGHZ 67, 129, 130; v. 20.12.2005 - VI ZR 225/04, VersR 2006, 416 Rz. 7, jeweils m.w.N.; dazu kritisch: Schiemann in Erman, BGB, 13. Aufl., § 833 Rz. 4 m.w.N.; vgl. auch Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl., § 9 Rz. 12 f.; Moritz in jurisPK/BGB, 6. Aufl., § 833 Rz. 14 ff.). Diese ist dann nicht anzunehmen, wenn keinerlei eigene Energie des Tieres an dem Geschehen beteiligt ist. Verletzungen durch Hundebisse sind danach grundsätzlich der spezifischen Tiergefahr zuzurechnen.
Rz. 6
3. Der Tierhalterhaftung des Beklagten steht nicht entgegen, dass die Klägerin seinen Hund für zehn Tage in ihrer Hundepension aufnahm und für diese Zeit die Beaufsichtigung des Tieres übernahm. Die Haftung des Tierhalters nach § 833 Satz 1 BGB greift nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur nämlich grundsätzlich auch dann ein, wenn ein Tieraufseher im Rahmen seiner Aufsichtsführung durch das betreute Tier verletzt wird (vgl. BGH, Urt. v. 12.1.1982 - VI ZR 188/80, VersR 1982, 366, 367; v. 19.1.1982 - VI ZR 132/79, VersR 1982, 348 f.; v. 9.6.1992 - VI ZR 49/91, VersR 1992, 1145, 1146; BGH, Urt. v. 26.6.1972 - III ZR 32/70, VersR 1972, 1047, 1048; OLG Hamm, VersR 1975, 865; OLG Frankfurt VersR 1997, 456; OLG Karlsruhe, NJW-RR 2009, 453; Palandt/Sprau, BGB, 73. Aufl., § 834 Rz. 3; Geigel/Haag, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 18 Rz. 39; Wussow/Rüge, Unfallhaftpflichtrecht, 16. Aufl., Kap. 11 Rz. 11; a.A. Wagner in MünchKomm/BGB, 6. Aufl., § 833 Rz. 20).
Rz. 7
4. Zu Unrecht verneint das Berufungsgericht einen Anspruch der Klägerin aus § 833 Satz 1 BGB unter dem Gesichtspunkt der freiwilligen Risikoübernahme. Bei der Tierhalterhaftung hat der erkennende Senat eine vollständige Haftungsfreistellung des Tierhalters unter dem Gesichtspunkt des Handelns auf eigene Gefahr nur in eng begrenzten Ausnahmefällen erwogen. Der Umstand, dass sich der Geschädigte der Gefahr selbst ausgesetzt hat, ist regelmäßig erst bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile nach § 254 BGB zu berücksichtigen (BGH, Urt. v. 17.3.2009 - VI ZR 166/08, VersR 2009, 693 Rz. 7; vgl. auch Schiemann, a.a.O., Rz. 6; Moritz, a.a.O., Rz. 30; jeweils m.w.N.). Unter welchen Voraussetzungen die Tierhalterhaftung ausnahmsweise bereits im Anwendungsbereich ausgeschlossen sein könnte, weil deren Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstieße (vgl. BGH, Urt. v. 20.12.2005 - VI ZR 225/04, a.a.O., Rz. 14 ff. m.w.N.), kann hier offenbleiben, denn ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend nicht gegeben.
Rz. 8
a) Für Fallgestaltungen, in denen sich Personen der Tiergefahr aus beruflichen Gründen vorübergehend aussetzen, ohne dabei die vollständige Herrschaft über das Tier zu übernehmen, wird ein genereller Ausschluss der Tierhalterhaftung sowohl unter dem Gesichtspunkt des Handelns auf eigene Gefahr als auch unter Schutzzweckerwägungen von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abgelehnt (vgl. BGH, Urt. v. 17.3.2009 - VI ZR 166/08, a.a.O., Rz. 11 und 19 m.w.N.). Für Fälle der vorliegenden Art kann grundsätzlich nichts anderes gelten.
Rz. 9
b) Der Auffassung des Berufungsgerichts, eine Haftung des Beklagten werde deshalb nicht vom Schutzzweck der Norm des § 833 Satz 1 BGB umfasst, weil das Interesse der Klägerin, den Hund aufzunehmen, das des Beklagten überwiege, weil sie mit dem Betrieb der Hundepension ihren Lebensunterhalt verdiene, kann nicht gefolgt werden. Der erkennende Senat ist einer solchen Sichtweise bereits früher entgegengetreten (BGH, Urt. v. 28.5.1968 - VI ZR 35/67, VersR 1968, 797, 798). Er hat für den Fall der Verletzung eines Hufschmiedes durch ein zu beschlagendes Pferd ausgeführt, es sei grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Hufschmied durch Abschluss des Werkvertrages allein noch nicht die Gefahr einer Verletzung durch das Tier übernehme. Denn es entspreche weder der Interessenlage noch den Erfordernissen von Treu und Glauben, dass der Hufschmied, der sich der mit dem Hufbeschlag notwendig verbundenen Tiergefahr aussetzen müsse, um seinen Lebensunterhalt zu erwerben, auch die durch die Tiergefahr hervorgerufenen Schadensfolgen auf sich nehme, die das Gesetz dem Tierhalter als dem Urheber der Gefahr anlaste. Zum Wesen des Beschlagvertrages gehöre es, dass der Hufschmied sich einer erhöhten Tiergefahr aussetze, nicht dagegen, dass er den Tierhalter, von dessen Tier die Gefahr ausgehe, von seiner gesetzlichen Haftung für die Schadensfolgen entbinde, die aus der Tiergefahr erwachsen könnten.
Rz. 10
c) Diese Überlegungen, an denen festzuhalten ist, treffen grundsätzlich auch für den Fall der Obhut über einen Hund in einer Tierpension zu. Die von den Vorinstanzen vertretene einschränkende Anwendung des § 833 Satz 1 BGB entspricht in Fällen der vorliegenden Art nicht der Intention des Gesetzes und ist auch nicht interessengerecht.
Rz. 11
aa) Der Umstand, dass der Inhaber einer Hundepension - im Unterschied z.B. zum Hufschmied oder Tierarzt - sich dem Tier nicht nur zur Vornahme einzelner Verrichtungen nähert, sondern dessen Beaufsichtigung ggf. für mehrere Tage vollständig übernimmt und während dieser Zeit die alleinige Herrschaft über das Tier innehat, rechtfertigt insoweit keine abweichende rechtliche Beurteilung. Grundsätzlich unerheblich ist, dass der Tierhalter während der Zeit der Obhut seines Hundes in der Tierpension von einer eigenen Einwirkung auf sein Tier ausgeschlossen ist. Dieser Gesichtspunkt, der genauso auf den Pferdehalter zutrifft, der sein Pferd einem Reiter zum selbständigen Ausreiten überlässt (BGH, Urt. v. 30.9.1986 - VI ZR 161/85, VersR 1987, 198, 200 m.w.N.) oder es bei einem Dritten unterstellt, wo es von diesem eigenmächtig zu einer Reitstunde eingesetzt wird (BGH, Urt. v. 19.1.1988 - VI ZR 188/87, VersR 1988, 609 f. m.w.N.), steht der Tierhalterhaftung grundsätzlich nicht entgegen (a.A. OLG Nürnberg VersR 1999, 240, 241). Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats bleibt die Tierhalterhaftung auch bei länger dauernder Überlassung des Tieres an einen Dritten erhalten, wenn derjenige, der sich des Tieres begibt, weiterhin für die Kosten der Tierhaltung aufkommt, den allgemeinen Wert und Nutzen des Tieres für sich in Anspruch nimmt und das Risiko seines Verlustes trägt. Selbst eine etwaige Nutzung des Tieres durch den Dritten auch für eigene Zwecke steht dem nicht entgegen, solange sich nicht der Schwerpunkt der Nutzung des Tieres auf den Dritten verlagert (BGH, Urt. v. 19.1.1988 - VI ZR 188/87, a.a.O.).
Rz. 12
bb) Die Tierhalterhaftung des Hundehalters gegenüber dem Tieraufseher, dem er seinen Hund zur Unterbringung in einer Hundepension überlassen hat, kann auch nicht mit der Begründung verneint werden, der gewerblich tätige Inhaber der Hundepension sei deswegen während der Zeit der Unterbringung des Tieres für dieses allein verantwortlich, weil er aufgrund seiner Professionalität eine Schädigung durch das Tier vermeiden könne. Diese Erwägung ließe außer Acht, dass auch der Fachmann nicht vollständig zu verhindern vermag, dass sich typische, gleichwohl aber auch von ihm nicht zu beherrschende Tiergefahren realisieren (vgl. Wussow/Terbille, Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl., Kap. 11 Rz. 35), zumal er mit der ggf. gerade diesem Tier anhaftenden besonderen Gefahr oftmals weniger vertraut sein wird als der Tierhalter, der die Eigenarten seines Tieres kennt. Der Umstand, dass ein Tieraufseher gewerblich tätig wird, macht ihn nicht weniger schutzwürdig.
Rz. 13
5. Eine generelle Haftungsfreistellung lässt sich, worauf die Revisionserwiderung abhebt, auch nicht mit einer Übertragung der für den Fahrer von Kraftfahrzeugen in § 8 Nr. 2 StVG getroffenen Regelung begründen, denn diese Norm stellt eine Ausnahmevorschrift dar, die eng auszulegen ist (vgl. zu §§ 8, 8a StVG a.F. BGH, Urt. v. 7.7.1956 - VI ZR 157/55, VersR 1956, 640; v. 3.12.1991 - VI ZR 378/90, VersR 1992, 437, 438; a.A. Wagner, a.a.O.) und deren Regelungsgehalt auch nicht auf vergleichbare Sachverhalte anderer Gefährdungshaftungen übertragen werden kann. Die Gefährdungshaftungen enthalten für die einzelnen Haftungsbereiche im Hinblick auf die Besonderheiten der jeweiligen Materie und ihrer Entstehungsgeschichte je eigenständige und in sich abgeschlossene Regelungen, die nur aus ihrem jeweiligen Zusammenhang heraus verstanden und angewendet werden können und demgemäß einer entsprechenden Anwendung auf andere Gefährdungshaftungen nicht zugänglich sind (BGH, Urt. v. 9.6.1992 - VI ZR 49/91, a.a.O., S. 1146 f.).
Rz. 14
6. Nach alledem kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit die gebotenen Feststellungen, ggf. auch zur Frage eines etwaigen Mitverschuldens der Klägerin (vgl. dazu BGH, Urt. v. 17.3.2009 - VI ZR 166/08, a.a.O., Rz. 15), nachgeholt werden können.
Fundstellen
Haufe-Index 6705754 |
NJW 2014, 2434 |
NJW 2014, 6 |
EBE/BGH 2014, 138 |
JurBüro 2014, 444 |
DAR 2014, 312 |
JZ 2014, 306 |
MDR 2014, 772 |
NJ 2014, 5 |
NZV 2014, 403 |
VersR 2014, 640 |
ZfS 2014, 435 |
r+s 2014, 304 |
AuUR 2014, 333 |