Entscheidungsstichwort (Thema)
Einwurf von politischen Flugblättern in den Briefkasten trotz Aufkleber "keine Werbung einwerfen"
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
1. Die Beschwerdeführerin, eine politische Partei, wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde dagegen, dass sie unter Androhung von Ordnungsgeld gerichtlich verurteilt wurde, den Einwurf ihrer Flugblattwerbung in den Hausbriefkasten des Klägers des Ausgangsverfahrens zu unterlassen, solange dort der Aufkleber „keine Werbung einwerfen” angebracht ist.
2. Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor, denn der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪24 ff.≫; 96, 245 ≪248 ff.≫). Die Verfassungsbeschwerde ist ohne Aussicht auf Erfolg.
Die Rüge der Beschwerdeführerin, das Kammergericht habe im Rahmen der vorgenommenen Abwägung die Bedeutung ihrer durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Betätigungsfreiheit als politische Partei verkannt, und die damit zusammenhängenden Rügen einer Verletzung der Parteiengleichheit und des Willkürverbots sind unbegründet.
a) Ob die Beschwerdeführerin verpflichtet ist, den Einwurf von Flugblättern in den Hausbriefkasten des Klägers des Ausgangsverfahrens zu unterlassen, ist zunächst eine Frage des einfachen Rechts (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 1991 – 1 BvR 867/90 –, NJW 1991, S. 910 f.).
Die Auslegung und Anwendung einfachrechtlicher Regelungen unter Würdigung des konkreten Sachverhalts obliegt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie den dafür zuständigen Fachgerichten. Deren Beurteilung ist vom Bundesverfassungsgericht nur daraufhin nachzuprüfen, ob die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫; stRspr, vgl. in neuerer Zeit Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 1998 – 2 BvR 378/98 –, NVwZ-RR 1999, S. 217 ≪218≫).
b) Nach diesem Maßstab ist kein Verfassungsverstoß ersichtlich.
Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert den Parteien das Recht, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. In den Schutzbereich der Parteifreiheit fällt dementsprechend auch die Werbung mit Plakaten und mittels Informationsständen sowie die Verteilung und Zusendung von Flugblättern und anderem Werbematerial (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 1991, NJW 1991, S. 910 f.; ebenso: Morlok in: Dreier [Hrsg.], Grundgesetz-Kommentar, 1998, Art. 21, Rn. 59). Die Werbung mit Flugblättern dient, auch wenn sie außerhalb von Wahlkampfzeiten stattfindet, der Einflussnahme auf die politische Willensbildung und ist damit von der Betätigungsfreiheit der politischen Parteien umfasst. Insbesondere kleinere Parteien wie die Beschwerdeführerin, die in den Medien kaum Gehör finden, bedürfen dieses Mittels, um in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erlangen und ihre Meinung zu verbreiten.
Die angegriffene Entscheidung des Kammergerichts hat dies nicht verkannt; sie lässt keine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung und der Tragweite des Rechts der politischen Parteien auf freie Betätigung erkennen. Das Gericht hat das Interesse der Beschwerdeführerin an der Verbreitung und Verteilung von Flugblättern mit ihren politischen Ansichten (Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) und das Interesse des Betroffenen, von unerwünschter politischer Werbung in seinem Hausbriefkasten verschont zu bleiben (Art. 2 Abs. 1 GG), in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise gegeneinander abgewogen. Dass das Kammergericht trotz des geringen Gewichts des Eingriffs in die Rechte des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 GG – der Betroffene wird durch den Einwurf der Werbesendung nicht gezwungen, deren Inhalt zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar mit ihm auseinanderzusetzen – zu keinem anderen Ergebnis bei seiner Abwägung gelangte, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin führt das angegriffene Urteil nicht zu einem faktischen Verbot der Flugblattwerbung oder zu einer Benachteiligung gegenüber politischen Mitbewerbern. Das Kammergericht hat allein entschieden, dass die Beschwerdeführerin es zu unterlassen hat, Wahlwerbung in den Hausbriefkasten des Klägers des Ausgangsverfahrens einzuwerfen oder einwerfen zu lassen, solange dort der Aufkleber „keine Werbung einwerfen” angebracht ist. Dass dies praktisch darauf hinausliefe, der Beschwerdeführerin eine Flugblattwerbung generell unmöglich zu machen, ist nicht ersichtlich. Die Beschwerdeführerin hat nach dem angegriffenen Urteil allein für die ihrem Einfluss unterliegende unerwünschte und damit rechtswidrige Flugblattverteilung und Versendung von Informationsmaterial durch ihre Mitglieder und mit der Verteilung oder Versendung von Werbematerial beauftragte Dritte einzustehen. Die angegriffene Entscheidung fußt auf der Annahme, dass die Beschwerdeführerin sich das Verhalten der in ihre Werbemaßnahmen eingeschalteten Organisationen und Personen zurechnen lassen muss, sofern sie sich nicht durch die Darlegung entlasten kann, dass sie alles ihr Zumutbare unternommen hat, um Rechtsbeeinträchtigungen des Klägers des Ausgangsverfahrens auszuschließen.
Dass das Kammergericht insoweit die bloße nicht näher substantiierte Anweisung der Beschwerdeführerin an ihren Landesverband, Briefkastenaufkleber mit der Aufschrift „keine Werbung einwerfen” zu beachten, nicht als ausreichend erachtet hat, begegnet angesichts der in Rede stehenden gegenläufigen Rechte der betroffenen Personen aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.
c) Die Frage, ob bei einem wiederholten Einwurf von Werbematerial der Beschwerdeführerin in den Briefkasten des Klägers des Ausgangsverfahrens ein zurechenbarer Verstoß der Beschwerdeführerin gegen ihre Unterlassungspflicht vorliegt, wird in einem etwaigen Vollstreckungsverfahren zu klären sein. Ein Ordnungsgeld kann gegen sie nur dann verhängt werden, wenn sie schuldhaft gegen diese Pflicht verstoßen hat (vgl. BVerfGE 84, 82 ≪87≫ m.w.N.).
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Jentsch, Broß, Lübbe-Wolff
Fundstellen
Haufe-Index 780433 |
NJW 2002, 2938 |
AfP 2003, 35 |
DSB 2003, 13 |
BayVBl. 2003, 79 |