Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 05.12.2013; Aktenzeichen 4 S 53.13) |
VG Berlin (Beschluss vom 10.06.2013; Aktenzeichen 5 L 122.13) |
Tenor
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 10. Juni 2013 – 5 L 122.13 – und der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 5. Dezember 2013 – 4 S 53.13 – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 in Verbindung mit Artikel 33 Absatz 2 des Grundgesetzes.
Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht Berlin zurückverwiesen.
Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 EUR (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verwaltungsgerichtliche Versagung von Eilrechtsschutz in einem Konkurrentenstreitverfahren.
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist Semitistin und als Privatdozentin an der Universität J. tätig. Sie bewarb sich auf eine im Juli 2011 von der Freien Universität Berlin ausgeschriebene Universitätsprofessur für Semitistik.
In ihrer zweiten Sitzung am 2. Dezember 2011 sah die Berufungskommission, die im Fachbereich für das Verfahren eingesetzt worden war, im Hinblick auf die Beschwerdeführerin „nach Abstimmung von einer Berücksichtigung im weiteren Verfahren” ab. Unter dem 15. Dezember 2011 erhielt die Beschwerdeführerin vom Sekretariat der Fachbereichsverwaltung ein Schreiben, in dem es hieß:
Wir müssen Ihnen nun leider mitteilen, dass andere Bewerber/innen zu den bevorstehenden Anhörungen geladen wurden, denen unter Berücksichtigung der für die zu besetzenden Professur zu erfüllenden Anforderungen der Vorzug zu geben war.
Ihre Bewerbungsunterlagen gehen, drei Monate nach Stellenbesetzung, an Sie zurück.
Wir wünschen Ihnen für Ihren weiteren beruflichen Werdegang alles Gute.
Nach Abschluss des hochschulinternen Berufungsverfahrens übersandte das Präsidium der Universität mit Schreiben vom 19. September 2012 die vom Fachbereichsrat beschlossene Berufungsliste als Berufungsvorschlag an die zuständige Senatsverwaltung des Landes Berlin. Diese erteilte mit Schreiben vom 2. November 2012 den Ruf an den Erstplatzierten.
2. Die Beschwerdeführerin hatte durch ihre Bevollmächtigten am 30. Oktober 2012 gegen das Schreiben der Fachbereichsverwaltung vom 15. Dezember 2011 einen von ihr selbst als solchen bezeichneten „Widerspruch” eingelegt und dort sowie bei der Senatsverwaltung Einsicht in die Akten des Berufungsverfahrens beantragt. Im Zuge der Akteneinsicht erlangte sie Kenntnis von der Liste als Berufungsvorschlag der Freien Universität Berlin sowie von der Erteilung des Rufs durch die Senatsverwaltung.
Mit Schriftsatz vom 16. November 2012 erhob die Beschwerdeführerin Klage beim Verwaltungsgericht Berlin gegen das Land Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung, und beantragte, diese unter Aufhebung der Ruferteilung an den Erstplatzierten zu verurteilen, über ihre Bewerbung erneut zu entscheiden. Das Land vertritt im Klageverfahren die Auffassung, „Antragsgegnerin” sei die für die Ernennung allein zuständige Freie Universität Berlin; die Ruferteilung sei lediglich eine unselbständige Vorbereitungshandlung und kein selbständig angreifbarer Verwaltungsakt. Das Klageverfahren ist noch nicht abgeschlossen.
3. Mit Schreiben vom 5. April 2013 teilte die Universität der Beschwerdeführerin mit, dass die Ernennung des Erstplatzierten der Liste am 22. April 2013 erfolgen werde. Die Beschwerdeführerin beantragte daraufhin den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, der Universität untersagen zu lassen, die streitige Professur durch diese Ernennung zu besetzen, bis über ihre Bewerbung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts erneut entschieden worden sei.
4. Mit Beschluss vom 10. Juni 2013 wies das Verwaltungsgericht den Eilantrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses zurück. Ihre Bewerbung sei bestandskräftig abgelehnt worden. Das Schreiben vom 15. Dezember 2011 sei entgegen ihrer Auffassung nicht eine „bloße Mitteilung” über den Stand des universitätsinternen Berufungsverfahrens, sondern die endgültige Ablehnung ihrer Bewerbung in Form eines der Bestandskraft fähigen Verwaltungsaktes. Der Widerspruch vom 30. Oktober 2012 sei unstatthaft gewesen und deshalb nicht geeignet, den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern. Die gebotene Klage gegen diesen Bescheid habe die Beschwerdeführerin nicht erhoben. Die Klage vom 16. November 2012 habe ausdrücklich die Ruferteilung zum Gegenstand und richte sich gegen das Land Berlin.
5. Mit Beschluss vom 5. Dezember 2013 wies das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Beschwerde zurück. Es bestätigte die Auslegung des Schreibens vom 15. Dezember 2011 als bestandskräftigen Verwaltungsakt.
6. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 sowie Art. 33 Abs. 2 GG durch die angegriffenen Entscheidungen. Nach der einschlägigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung habe sie sich darauf verlassen können, dass nur die endgültige Entscheidung über die Besetzung der Stelle mit einem bestimmten Bewerber verwaltungsgerichtlicher Kontrolle unterzogen werden könne.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist dem Senat von Berlin, der Freien Universität Berlin und dem auf die umstrittene Professur Berufenen zugestellt worden. Stellungnahmen sind nicht abgegeben worden.
III.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor, weil sie unter Berücksichtigung der bereits hinreichend geklärten Maßstäbe zu Art. 19 Abs. 4 GG zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere steht ihr, wie bereits im Beschluss über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 12. Januar 2014 (1 BvR 3606/13) festgestellt, weder der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) noch ein fehlendes Rechtsschutzinteresse entgegen.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen durch ihre Auslegung des Schreibens vom 15. Dezember 2011 als anfechtbarem Verwaltungsakt gegen die effektive Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, hier in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG.
a) Das Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der individuellen Rechtssphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 101, 397 ≪407≫ m.w.N.). Der Rechtsschutz, den Art. 19 Abs. 4 GG Einzelnen im Hinblick auf die Wahrung oder die Durchsetzung ihrer subjektiven öffentlichen Rechte gewährt, verlangt eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 101, 106 ≪122≫; stRspr).
Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG gebietet es, die Vorschriften über die Einlegung von Rechtsbehelfen so anzuwenden und auszulegen, dass sie es nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren, einen eröffneten Rechtsweg zu beschreiten (vgl. BVerfGE 77, 275 ≪284≫; 78, 88 ≪99≫). Den Fachgerichten ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 ≪369 f.≫).
Rechtssuchende müssen zudem erkennen können, welches Rechtsmittel für sie in Betracht kommt und unter welchen rechtlichen Voraussetzungen es zulässig ist (vgl. BVerfGE 49, 148 ≪164≫; 54, 277 ≪292 f.≫; 87, 48 ≪65≫; 107, 395 ≪416≫; 108, 341 ≪349≫). Sie dürfen nicht mit einem für sie nicht übersehbaren Annahmerisiko und dessen Kostenfolgen belastet werden (vgl. BVerfGE 49, 148 ≪164≫; 54, 277 ≪293≫). Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die Rechtssuchenden den Zugang zu den Gerichten eröffnet (vgl. BVerfGE 15, 275 ≪281 f.≫).
b) Nach diesen Maßstäben verstößt die Auffassung der Verwaltungsgerichte, das Schreiben vom 15. Dezember 2011 stelle einen Verwaltungsakt und nicht nur eine behördliche Verfahrenshandlung (§ 44a Satz 1 VwGO) dar, gegen den die Beschwerdeführerin hätte gerichtlich vorgehen müssen, gegen Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG. Für die Beschwerdeführerin war diese Qualifikation des Schreibens nicht vorhersehbar. Vielmehr war sie nach der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung im Gegenteil gerade gehalten, die abschließende Auswahlentscheidung abzuwarten, die sich in der Erteilung des Rufes manifestiert (vgl. Beaucamp/Seifert, WissR 2011, S. 24 ≪37≫ m.w.N.). Danach steht die Entscheidung erst mit diesem Abschluss des Verwaltungsverfahrens über die Berufung verbindlich fest und ist damit auch erst dann einer sinnvollen Überprüfung zugänglich.
Es ist nicht ersichtlich, worauf die Verwaltungsgerichte die Annahme stützen, dass sich die Beschwerdeführerin vorliegend nicht auf den Grundsatz verlassen durfte, nach dem Rechtsschutz erst nach Abschluss eines Verfahrens im Rahmen hochschulrechtlicher Berufungsverfahren zu erwirken ist. Den vollständigen Abschluss des Verwaltungsverfahrens bringt die Verwaltung hier wie auch sonst durch die Bekanntgabe der erfolgreichen Person verbunden mit der ablehnenden Bescheidung der weiteren Bewerberinnen und Bewerber in der sogenannten „Konkurrentenmitteilung” zum Ausdruck. Dies gilt auch in zweigeteilten Stellenbesetzungsverfahren – hochschulinternes Berufungsverfahren und Ernennung – für Professuren (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 3. April 2008 – 6 B 159/08 –, juris, Rn. 6 ff.; BayVGH, Beschluss vom 30. April 2009 – 7 CE 09.661, 7 CE 09.662 –, juris, Rn. 21). Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei der Erstellung der Berufungsliste um einen rechtlich unselbständigen Zwischenschritt (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 3. April 2008 – 6 B 159/08 –, juris, Rn. 8) innerhalb des Fachbereichs beziehungsweise der Fakultät, der regelmäßig noch von weiteren Gremien – dem Fachbereichs – beziehungsweise Fakultätsrat, dem Akademischen Senat – bestätigt und von der Hochschulleitung befürwortet werden muss. Jede dieser Entscheidungen kann das Verfahren verändern, wenn beispielsweise weitere Personen zu Anhörungen nachgeladen, Gutachten eingefordert oder die einmal erstellte Liste – durch die Berufungskommission, den Fachbereich oder auch den Akademischen Senat – wieder verändert werden. Teilt das Sekretariat eines Fachbereichs Bewerberinnen und Bewerbern vor einem Beschluss weiterer zu beteiligender Gremien und der Hochschulleitung mit, dass sie nicht zu Anhörungen eingeladen oder auf einer Liste der Berufungskommission oder des Fachbereichs berücksichtigt worden sind, handelt es sich daher um eine bloße Wissenserklärung und nicht um einen Verwaltungsakt zum Abschluss eines beamtenrechtlichen Verfahrens.
Bei der hier in Rede stehenden Besetzung einer Professur sind das Vorschlagsrecht der Hochschule und das staatliche Berufungsrecht miteinander verbunden (vgl. BVerfGE 15, 256 ≪264≫), denn eine abschließende Bescheidung zur Auswahl kann nach dem Berliner Hochschulrecht nicht allein durch die Hochschule vorgenommen werden (vgl. § 101 BerlHG). Auch wer von der Hochschule in einem solchen gestuften System nicht für eine Berufung vorgeschlagen worden ist, scheidet nicht schon dadurch aus dem Konkurrenzverhältnis um die Besetzung einer Professur aus (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 18. Dezember 1995 – 3 M 91/95 –, NVwZ-RR 1996, S. 266 ≪267≫).
3. Die Grundrechtsverletzung hat hier besonderes Gewicht, weil sie dazu geführt hat, dass der Bewerbungsverfahrensanspruch der Beschwerdeführerin zu keinem Zeitpunkt inhaltlich von den Fachgerichten überprüft worden ist.
4. Die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte beruhen auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG. Sie sind daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben; die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.
IV.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.
Unterschriften
Kirchhof, Masing, Baer
Fundstellen