Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn die Berufungsbegründungsfrist entgegen der Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts nicht verlängert wird
Leitsatz (redaktionell)
Sieht ein Gericht bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein Verhalten als schuldhaft an, das nach der Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts eindeutig nicht zu beanstanden ist, liegt eine unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu den Instanzen vor, es sei denn, dem betroffenen Rechtsanwalt mußte bekannt sein, dass bei dem angerufenen Gericht eine strengere Handhabung von Verfahrensvorschriften zu erwarten ist (hier: Arbeitsüberlastung entgegen der Rechtsprechung des BAG vom LArbG nicht als erheblicher Grund i. S. des § 66 Abs. 1 Satz 4 ArbGG anerkannt). Im Streitfall wurde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ArbGG § 66 Abs. 1 S. 4
Beteiligte
Rechtsanwälte Dr. Ulrich Fritze und Partner |
Verfahrensgang
LAG Berlin (Beschluss vom 04.01.1999; Aktenzeichen 9 Sa 116/98) |
Tenor
Der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 4. Januar 1999 – 9 Sa 116/98 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 15.000 DM (in Worten: fünfzehntausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine gerichtliche Entscheidung, mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist für die Berufungsbegründung versagt und die Berufung verworfen worden ist.
I.
1. Das Arbeitsgericht verurteilte den Beschwerdeführer, an die Klägerin eine restliche Vergütung von 13.500 DM zu zahlen. Der Beschwerdeführer legte dagegen beim Landesarbeitsgericht Berufung ein. Am Tag vor Ablauf der Frist für die Berufungsbegründung stellte sein Rechtsanwalt den Antrag, die Frist um einen Monat zu verlängern. Angesichts des bevorstehenden Jahreswechsels seien zahlreiche fristgebundene Angelegenheiten, insbesondere zur Verjährungsunterbrechung, zu bearbeiten.
Der Kammervorsitzende wies den Antrag am letzten Tag der Frist mit der Begründung zurück, dass erhebliche Gründe für die Verlängerung nicht substantiiert dargelegt seien. Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers stellte daraufhin einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und begründete die Berufung. Das Landesarbeitsgericht wies den Antrag auf Wiedereinsetzung zurück und verwarf die Berufung. Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers habe die Versäumung der Frist verschuldet. Er hätte sich nicht darauf verlassen dürfen, dass dem Antrag stattgegeben werde, sondern nachfragen müssen, ob das Gericht seine Begründung für ausreichend erachte. Beim angerufenen Landesarbeitsgericht sei es keine allgemeine Praxis, dass Anträgen auf Fristverlängerung ohne konkrete, auf den Einzelfall bezogene Begründung entsprochen werde. So habe es schon im Urteil vom 26. Januar 1990 (DB 1990, S. 1472) entschieden.
2. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Sein Rechtsanwalt habe auf die Verlängerung der Frist vertrauen dürfen. Arbeitsüberlastung sei als erheblicher Grund für die Verlängerung der Frist für die Berufungsbegründung allgemein anerkannt. Sein Rechtsanwalt habe nicht wissen können, dass das angerufene Landesarbeitsgericht unübliche Anforderungen bei der Fristverlängerung stelle. Deshalb habe er auch nicht nachfragen müssen.
3. Die Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen des Landes Berlin und die Klägerin des Ausgangsverfahrens haben sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Rechtes des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) angezeigt ist. Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Eine solche unzumutbare Erschwerung liegt vor, wenn Gerichte bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein Verhalten als schuldhaft ansehen, das nach der Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts eindeutig nicht zu beanstanden ist. Nur wenn dem betroffenen Rechtsanwalt bekannt sein muss, dass bei dem angerufenen Gericht eine strengere Handhabung von Verfahrensvorschriften zu erwarten ist, kann eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 79, 372 ≪376 f.≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. August 1998, NJW 1998, S. 3703 f. m.w.N.).
b) Hier durfte der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers sich auf eine eindeutige Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts verlassen. Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass zu den erheblichen Gründen im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 4 ArbGG besonders starke Arbeitsbelastung des Prozessbevollmächtigten zählt. Dieser braucht danach auch nicht deshalb mit der vollständigen Ablehnung der Fristverlängerung zu rechnen, weil er die Gründe der besonders starken Arbeitsbelastung und ihre Auswirkungen auf die Bearbeitung gerade der konkreten Sache nicht näher substantiiert und glaubhaft gemacht hat. Eine Rückfrage bei Gericht vor Ablauf der Frist ist nicht veranlasst (vgl. BAG, Beschluss vom 27. September 1994, NJW 1995, S. 1446 f.; vgl. auch BGH, NJW 1991, S. 2080 f.; Schaub, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 66 Rn. 14; Zöller/Gummer, ZPO, 21. Aufl., § 519 Rn. 19).
Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers konnte, als er den Antrag auf Fristverlängerung stellte, nicht wissen, dass das Landesarbeitsgericht eine ins Einzelne gehende Darlegung der Gründe für die berufliche Überlastung und deren Auswirkungen auf die konkrete Sache fordern würde. Das im angegriffenen Beschluss zitierte Urteil einer anderen Kammer des Landesarbeitsgerichts vom 26. Januar 1990 ändert daran nichts. Das gilt schon deshalb, weil es lange vor der genannten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ergangen ist und infolgedessen als überholt angesehen werden konnte. Der Rechtsanwalt hat seinen Antrag auch nicht nur mit einem schlagwortartigen Hinweis auf Arbeitsüberlastung begründet, sondern dargelegt, dass angesichts des bevorstehenden Jahresabschlusses zahlreiche fristgebundene Angelegenheiten, insbesondere zur Verjährungsunterbrechung, zu bearbeiten gewesen seien. Insofern treffen die vom Landesarbeitsgericht im Jahre 1990 entwickelten Grundsätze (vgl. auch LAG Düsseldorf, DB 1994, S. 1528) auf den von ihm gestellten Verlängerungsantrag nicht zu.
2. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Gegenstandswerts auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
Unterschriften
Kühling, Jaeger, Hömig
Fundstellen
BB 2000, 1357 |
DStZ 2000, 615 |
NZA 2000, 446 |