Verfahrensgang
AG Reinbek (Beschluss vom 14.12.2011; Aktenzeichen 5 C 414/11) |
AG Reinbek (Urteil vom 27.10.2011; Aktenzeichen 5 C 414/11) |
Tenor
Das Urteil des Amtsgerichts Reinbek vom 27. Oktober 2011 – 5 C 414/11 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf wirkungsvollen Rechtsschutz aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Beschluss des Amtsgerichts Reinbek vom 14. Dezember 2011 – 5 C 414/11 – ist damit gegenstandslos.
Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Nichtzulassung der Berufung in einem Zivilrechtsstreit.
1. Der Beschwerdeführer ist Insolvenzverwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH. Das Insolvenzverfahren wurde auf einen Antrag aus dem Oktober 2009 im Januar 2010 eröffnet. Im September 2009 hatte die bereits zahlungsunfähige Insolvenzschuldnerin 322,07 Euro an den von einer Gläubigerin beauftragten Gerichtsvollzieher gezahlt. In dem Ausgangsverfahren verlangte der Beschwerdeführer von der Gläubigerin die Rückzahlung dieses Betrages, weil die im Wege der Zwangsvollstreckung oder unter dem Druck angekündigter Zwangsvollstreckung erfolgte Befriedigung im Sinne von § 131 InsO als inkongruent anzusehen sei.
Nach Eingang der Klage wies das Amtsgericht darauf hin, dass es die obergerichtliche Rechtsauffassung nicht teile, nach der Zahlungen, die unter dem Druck der Zwangsvollstreckung erfolgen, inkongruent seien. Der Beschwerdeführer trat dem entgegen und regte die Zulassung der Berufung an.
Mit dem angegriffenen Urteil wies das Amtsgericht die Klage ab. Die Leistung eines Gemeinschuldners in Zeiten der Krise im Rahmen einer Einzelzwangsvollstreckung sei zwar nach ständiger Rechtsprechung der Obergerichte inkongruent. Das Amtsgericht schließe sich dieser Rechtsauffassung aber nicht an. Die Berufung sei nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung habe und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erforderten. Dem Amtsgericht sei aus einem anderen Verfahren bekannt, dass das zuständige Landgericht die Rechtsauffassung der Obergerichte teile. Die zugrunde liegende Rechtsfrage sei somit geklärt. Die Zulassung der Berufung diene nicht dazu, eine der Partei ungünstige Rechtsauffassung eines Amtsgerichts durch die für sie günstigere Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu ersetzen.
Die gegen die unterbliebene Zulassung der Berufung gerichtete Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Amtsgericht zurück. Eine Zulassung der Berufung komme nicht in Betracht, wenn der Bundesgerichtshof eine Frage längst geklärt habe. Vorliegend gebe es eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung, die auch in jüngerer Zeit nicht von der Literatur oder unteren Gerichten in Frage gestellt werde. Die abweichende Ansicht des Amtsgerichts sei in der Sache zwar richtig, aber eine absolute Mindermeinung. Eine Rechtsfortbildung sei leider nicht zu erwarten.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das Urteil und den seine Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss. Die unterbliebene Zulassung der Berufung verstoße gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG. Das Amtsgericht habe objektiv willkürlich die Sicherung der Rechtseinheitlichkeit im Zuständigkeitsbereich des Berufungsgerichts vereitelt. Dadurch habe es auch die Gewährleistung des gesetzlichen Richters, das Gebot effektiven Rechtsschutzes und den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
3. Das Ministerium für Justiz, Kultur und Europa des Landes Schleswig-Holstein und die Beklagte des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat der Kammer vorgelegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.
1. Das Urteil des Amtsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das Amtsgericht hat durch eine aus Sachgründen nicht zu rechtfertigende Handhabung von § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alternative 3 ZPO den Zugang des Beschwerdeführers zur Berufungsinstanz unzumutbar eingeschränkt.
a) Für den Zivilprozess ergibt sich das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. BVerfGE 85, 337 ≪345≫; 97, 169 ≪185≫). Es beeinflusst die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind. Hat der Gesetzgeber sich für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 ≪385≫; 74, 228 ≪234≫; 77, 275 ≪284≫; 104, 220 ≪231 f.≫; 125, 104 ≪136 f.≫; BVerfGK 5, 189 ≪193≫). Aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen, damit objektiv willkürlich, und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränkend ist eine Entscheidung insbesondere dann, wenn das Gericht ohne Auseinandersetzung mit der Sach- und Rechtslage eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder deren Inhalt bei Auslegung und Anwendung in krasser Weise missdeutet (vgl. BVerfGE 87, 273 ≪278 f.≫; 89, 1 ≪13 f.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2013 – 1 BvR 859/13 –, juris, Rn. 21).
b) Nach diesem Maßstab hat das Amtsgericht durch seine in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise falsche Anwendung von § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alternative 3 ZPO (Zulassung der Berufung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt.
aa) Nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alternative 3 ZPO lässt das Gericht des ersten Rechtszugs die Berufung gegen ein die Partei mit nicht mehr als 600 Euro beschwerendes Urteil zu, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Damit soll ausweislich der Gesetzesmaterialien vermieden werden, dass im Zuständigkeitsbereich eines Berufungsgerichts schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen, wobei es darauf ankommt, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung für die Rechtsprechung im Ganzen hat. Von solchen Unterschieden ist bei der Abweichung von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage insbesondere dann auszugehen, wenn die Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung ist, weil sie in einer Mehrzahl von Fällen auftreten kann (vgl. BTDrucks 14/4722, S. 93 ≪104≫; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Mai 2004 – 1 BvR 2682/03 – und – 1 BvR 172/04 –, juris, jeweils Rn. 13; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2013 – 1 BvR 859/13 –, juris, Rn. 23).
bb) Diese Rechtslage hat das Amtsgericht grundlegend verkannt. Es hat sich ausdrücklich in Widerspruch zu einer im Entscheidungszeitpunkt gegebenen, von dem Beschwerdeführer angeführten einhelligen höchstrichterlichen Rechtsprechung gesetzt. Das Amtsgericht führt – zutreffend – aus, dass die ständige Rechtsprechung der Obergerichte die Leistung eines Gemeinschuldners in Zeiten der Krise im Rahmen einer Einzelzwangsvollstreckung als inkongruent ansieht (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 9. Januar 2014 – IX ZR 209/11, juris, Rn. 37; s. auch Kayser, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 3. Aufl. 2013, § 131 Rn. 26 ff. m.w.N. [„seit 1883 ständig verfolgte Rechtsprechung”]). Dem Amtsgericht war bekannt, dass auch das für die Berufung zuständige Landgericht dieser Rechtsprechung folgte. Ferner ist es davon ausgegangen, dass die Abweichung entscheidungserheblich war, der Beschwerdeführer also in der Berufungsinstanz voraussichtlich obsiegt hätte. Schließlich betraf die Abweichung eine Rechtsfrage, die sich auch künftig in einer Vielzahl von Sachverhalten stellen wird.
Vor diesem Hintergrund hätte das Amtsgericht, wenn es die obergerichtliche Rechtsprechung zur Insolvenzanfechtung nach § 131 InsO für falsch hielt und wie geschehen in der Sache abweichend entscheiden wollte, gemäß § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alternative 3 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Berufung zulassen müssen. Die Erwägungen, aus einem anderen Verfahren sei bereits bekannt, dass das zuständige Landgericht die Rechtsauffassung der Obergerichte teile, die zugrunde liegende Rechtsfrage sei somit geklärt, die Zulassung der Berufung diene nicht dazu, eine der Partei ungünstige Rechtsauffassung eines Amtsgerichts durch die für sie günstigere Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu ersetzen, sind in keiner Weise mit Wortlaut und Zweck von § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alternative 3 ZPO vereinbar. Die objektiv willkürliche Nichtzulassung der Berufung schließt den Beschwerdeführer von dem verfassungsrechtlich gebotenen Zugang zum Rechtsweg aus und ist mit dem Gebot wirkungsvollen Rechtsschutzes nicht zu vereinbaren (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2013 – 1 BvR 859/13 –, juris, Rn. 20 ff.).
2. Ob dadurch auch das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG; vgl. BVerfGK 12, 298 ≪301 f.≫; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Mai 2004 – 1 BvR 2682/03 – und – 1 BvR 172/04 –, juris, jeweils Rn. 13), der Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; vgl. BVerfGK 2, 202 ≪204≫; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. März 2012 – 1 BvR 2365/11 –, juris, Rn. 18 und vom 23. April 2014 – 1 BvR 2851/13 –, juris, Rn. 22) und das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt sind, bedarf keiner Entscheidung. Der Beschwerdeführer verfolgt mit seinen entsprechenden Rügen kein weitergehendes Anfechtungsziel.
III.
1. Das Urteil des Amtsgerichts ist aufzuheben, und die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Voßkuhle, Landau, Hermanns
Fundstellen
Haufe-Index 7384278 |
WM 2014, 2093 |
ZIP 2014, 2141 |
NZI 2014, 975 |
ZInsO 2014, 2490 |
ZVI 2014, 457 |