Verfahrensgang
OLG Hamburg (Beschluss vom 24.02.2010; Aktenzeichen 2 Wx 111/09) |
LG Hamburg (Beschluss vom 22.09.2009; Aktenzeichen 329 T 52/09) |
AG Hamburg (Beschluss vom 14.08.2009; Aktenzeichen 219j XIV 41031/09) |
Tenor
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Hamburg vom 14. August 2009 – 219j XIV 41031/09 –, des Landgerichts Hamburg vom 22. September 2009 – 329 T 52/09 – und des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 24. Februar 2010 – 2 Wx 111/09 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit sie die Haftantragstellung durch die Hamburger Ausländerbehörde betreffen.
Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts wird aufgehoben und die Sache an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer drei Viertel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Reichweite des in Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten Gebots zur Beachtung der Formvorschriften in Freiheitsentziehungsverfahren.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Nach einem erfolglosen Asylantrag und einer Zurückschiebung nach Dänemark im Jahre 2002 reiste er 2009 erneut nach Deutschland ein. Am 27. Juli 2009 wurde er in Hamburg vorläufig festgenommen. Wegen des Verdachts der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts wurde gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, in welchem am 28. Juli 2009 Haftbefehl erging.
2. Die aufgrund des früheren Asylantrages des Beschwerdeführers zuständige Ausländerbehörde des Kreises Unna bat die Hamburger Ausländerbehörde mit Schreiben vom 3. August 2009, „die Abschiebung des Betroffenen in Amtshilfe zu organisieren, ggf. die Haft zur Sicherung der Abschiebung zu beantragen und wenn notwendig die Passersatzpapierbeschaffung einzuleiten”. Auf Antrag der Hamburger Ausländerbehörde ordnete das Amtsgericht Hamburg gegen den Beschwerdeführer daraufhin mit Beschluss vom 14. August 2009 die Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 AufenthG an.
3. Gegen die Anordnung der Sicherungshaft legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein, in welcher er unter anderem die Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde für die Stellung des Haftantrages in Frage stellte und eine an Verfahrensmängeln leidende Anhörung durch das Amtsgericht bemängelte. Auch rügte er, das Amtsgericht habe die Ausländerakten nicht beigezogen und daher den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt. Die sofortige Beschwerde blieb ohne Erfolg. Das Landgericht hielt die Hamburger Ausländerbehörde aufgrund des Amtshilfeersuchens für die Antragstellung für zuständig, ohne dazu Näheres auszuführen. Die Ausländerakten lagen dem Landgericht bei seiner Entscheidung vor.
4. Die sofortige weitere Beschwerde, mit der der Beschwerdeführer die Feststellung der Rechtswidrigkeit der am 18. Dezember 2009 erledigten Freiheitsentziehung begehrte, wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 24. Februar 2010 zurück. Die Stellung des Haftantrages durch die Hamburger Ausländerbehörde im Wege der Amtshilfe begegne keinen rechtlichen Bedenken. Art. 35 Abs. 1 GG hebe die Verpflichtung zur Amtshilfe hervor; die nähere gesetzliche Ausgestaltung der Amtshilfe in §§ 4 ff. des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes ergebe keine Unzulässigkeit der Amtshilfe. Diese sei unter anderem dann möglich, wenn die ersuchende Behörde die Handlung nur mit wesentlich größerem Aufwand vornehmen könnte als die ersuchte Behörde. Diese Voraussetzung sei hier erfüllt gewesen, weil sich der Beschwerdeführer in Hamburg in Haft befunden habe. Die Organisation der Abschiebung in Nordrhein-Westfalen einschließlich einer Verlegung des Beschwerdeführers dorthin hätte das Verfahren mit großer Wahrscheinlichkeit verzögert. Umgekehrt hätte die zuständige Ausländerbehörde in Unna eine Abschiebung über den Flughafen Hamburg nur mit unvertretbarem organisatorischen, personellen und ökonomischen Aufwand durchführen können, weil ein Beamter nach Hamburg hätte anreisen müssen, um dort die erforderlichen Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Das Verfahren vor dem Amtsgericht leide auch nicht an formellen Fehlern. Die unterlassene Beiziehung der Ausländerakte durch das Amtsgericht sei nur dann beachtlich, wenn sich aus den Akten Tatsachen oder Anhaltspunkte ergäben, die gegen das Vorliegen der Voraussetzungen der beantragten Haft sprechen; dies sei hier nicht der Fall gewesen. Im Übrigen sei ein Verstoß jedenfalls geheilt, nachdem das Landgericht die Akten vor seiner Entscheidung beigezogen habe. Bei der Beiziehung von Verfahrensakten handele es sich anders als bei der Anhörung des Betroffenen nicht um einen nicht mehr heilbaren Formverstoß.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, Zuständigkeitsnormen komme bei freiheitsentziehenden Maßnahmen eine grundrechtssichernde Funktion zu; Art. 104 Abs. 1 GG erhebe die in einem freiheitsbeschränkenden Gesetz enthaltenen Formvorschriften zum Verfassungsgebot. Der Haftantrag sei durch die örtlich unzuständige Behörde gestellt worden, und die Voraussetzungen für eine Amtshilfe hätten in formeller und materieller Hinsicht nicht vorgelegen. Es sei zweifelhaft, ob der Kreis Unna ein hinreichend bestimmtes Amtshilfeersuchen gestellt habe, weil er die Entscheidung über die Stellung eines Haftantrages der Hamburger Ausländerbehörde überlassen habe. Die Amtshilfe dürfe sich außerdem nur auf Hilfstätigkeiten erstrecken und könne nicht, wie hier, die gänzliche Übernahme eines Falles betreffen. Darüber hinaus wäre die Antragstellung der Ausländerbehörde Unna ohne zusätzlichen Aufwand selbst möglich gewesen, indem sie den Haftantrag und die zugehörigen Unterlagen übersandt hätte. Auf die Erwägungen des Oberlandesgerichts bezüglich anderer Verfahrenshandlungen als der Antragstellung komme es insoweit nicht an.
Ferner rügt der Beschwerdeführer die unterlassene Beiziehung der Ausländerakte durch das Amtsgericht. Es gehöre zur unverzichtbaren Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen über den Entzug der persönlichen Freiheit sich auf eine zureichende Sachverhaltsgrundlage stützen; zur gebotenen Sachverhaltsaufklärung sei dabei regelmäßig die Ausländerakte beizuziehen. Die relevanten Unterlagen seien dem Amtsgericht auch nicht unabhängig von der Ausländerakte bekannt gewesen.
III.
Zur Verfassungsbeschwerde sind folgende Stellungnahmen eingegangen: Die Behörde für Inneres und Sport der Freien und Hansestadt Hamburg hat sich der Rechtsauffassung des Hanseatischen Oberlandesgerichts angeschlossen. Der Kreis Unna hat im Wesentlichen ausgeführt, eine Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde sei nach Nr. 71.1.4.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (AufenthG-VwV) begründet, weil der Beschwerdeführer in Hamburg aufgegriffen worden sei; des Amtshilfeersuchens habe es daher nicht bedurft. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat eine Äußerung des Vorsitzenden des V. Zivilsenats übermittelt. Dieser hält es bereits für zweifelhaft, ob es sich bei dem Schreiben des Kreises Unna vom 3. August 2009 um ein Amtshilfeersuchen handele, weil Amtshilfe begrifflich die auf ein Ersuchen geleistete ergänzende Hilfe zwischen Behörden sei, während das Ersuchen hier mehrere Teilakte umfasse. Zudem seien jedenfalls die Voraussetzungen für eine Amtshilfe nicht erfüllt, insbesondere weil die Haftantragstellung, auf die es hier allein ankomme, für den Kreis Unna nicht mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden gewesen wäre (§ 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG). Eine originäre Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde sei nach den insoweit einschlägigen Vorschriften des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes nicht gegeben.
Die Ausländerakte sowie die Akte des Ausgangsverfahrens sind beigezogen worden.
Entscheidungsgründe
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, soweit sie die Haftantragstellung durch die Hamburger Ausländerbehörde rügt. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde insoweit zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93b Satz 1 BVerfGG).
I.
Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Amtsgericht habe die Ausländerakten nicht beigezogen, sind die Annahmevoraussetzungen nicht erfüllt. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil sie nicht hinreichend substantiiert ist (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG).
1. Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen (BVerfGE 70, 297 ≪308≫). Um den Anforderungen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG zu genügen, sind bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung regelmäßig die Akten der Ausländerbehörde beizuziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 – 2 BvR 1033/06 –, NVwZ 2008, S. 304 f.). Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht (BVerfGK 7, 87 ≪100≫).
2. Inwiefern diese Maßstäbe hier dadurch verletzt worden sein können, dass das Amtsgericht die Ausländerakten nicht beigezogen hat, ist nicht hinreichend dargelegt. Insbesondere ist nicht dargetan, welche Informationen in der Ausländerakte enthalten waren, aufgrund derer das Amtsgericht zu einer abweichenden Beurteilung der Haftfrage hätte gelangen müssen. Von einer weiteren Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
II.
Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.
1. a) Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪322≫; 29, 312 ≪316≫). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 ≪26≫; 94, 166 ≪198≫; 96, 10 ≪21≫). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪322≫; 58, 208 ≪220≫). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪323≫; 29, 183 ≪195 f.≫; 58, 208 ≪220≫).
b) Inhalt und Reichweite der Formvorschriften, deren Beachtung über Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhoben ist, sind von den Fachgerichten so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten können. Jenseits der Grenze der Aushöhlung und Entwertung des Grundrechts über das Verfahrensrecht verbleibt den Fachgerichten aber Raum, sich zwischen mehreren möglichen Deutungen des Gesetzes zu entscheiden. Es bleibt in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte, den Sinn des Gesetzesrechts mit Hilfe der anerkannten Methoden der Rechtsfindung zu ergründen. Das Bundesverfassungsgericht greift erst dann korrigierend ein, wenn das fachgerichtliche Auslegungsergebnis über die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen hinausgreift, insbesondere wenn es mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf persönliche Freiheit nicht zu vereinbaren ist oder wenn es sachlich schlechthin unhaltbar und somit willkürlich ist (BVerfGE 65, 317 ≪322 f.≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2009 – 2 BvR 1537/08 –, juris, Rn. 14).
2. Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben stehen die angegriffenen Entscheidungen nicht im Einklang.
a) Das Verfahren bei Freiheitsentziehungen richtete sich zu dem maßgeblichen Zeitpunkt gemäß § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in der bis zum 31. August 2009 geltenden Fassung nach dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (FreihEntzG). Nach dessen § 3 Satz 1 konnte die Freiheitsentziehung nur das Amtsgericht auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen. § 3 Satz 1 FreihEntzG gehörte mit seiner Bestimmung, dass ein Haftantrag von der zuständigen Behörde zu stellen ist, zu den Formvorschriften, deren Beachtung durch Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhoben ist (BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2009 – 2 BvR 1537/08 –, juris, Rn. 16, und vom 4. Oktober 2010 – 2 BvR 1825/08 –, juris, Rn. 36).
b) Die Gerichte haben, indem sie eine Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde für die Stellung des Haftantrages angenommen haben, § 3 Satz 1 FreihEntzG in einer Weise angewendet, die unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar ist.
aa) Das Amtsgericht hat sich mit der Frage der Zuständigkeit der Ausländerbehörde nicht auseinandergesetzt. Das Landgericht hat ohne weitere Begründung eine zulässige Antragstellung im Wege der Amtshilfe angenommen. Das Oberlandesgericht ist ebenfalls der Auffassung, die Ausländerbehörde in Hamburg sei nach den Vorschriften des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes über die Amtshilfe zur Stellung des Antrages befugt gewesen. Diese Rechtsauffassung verfehlt den Gehalt der herangezogenen Bestimmungen in verfassungsrechtlich erheblicher Weise.
(1) Dabei kann dahinstehen, ob die Vorschriften über die Amtshilfe in Abschiebungshaftsachen überhaupt eine von der ersuchenden Behörde abgeleitete Zuständigkeit der ersuchten Behörde begründen können (umstr.; verneinend OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 13. November 1998 – 20 W 442/98 –; ebenso OLG München, Beschluss vom 28. September 2006 – 34 Wx 115/06 –; jeweils zitiert nach Winkelmann, Online-Kommentar Migrationsrecht.net, Freiheitsentziehungs- und Haftrecht, S. 35 ≪38≫ bzw. S. 9 ≪13≫; offen gelassen in OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Mai 2008 – 14 Wx 10/08 –; OLG Köln, Beschluss vom 15. Oktober 2008 – 16 Wx 215/08; KG, Beschluss vom 25. August 2006 – 25 W 70/05 –; jeweils zitiert nach Winkelmann, a.a.O., S. 21 ≪24 f.≫, S. 17 ≪19≫ bzw. S. 30 ≪34≫).
(2) Jedenfalls sind die Voraussetzungen einer Amtshilfe hier in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt.
(a) Die Amtshilfe umfasst, was der Vorsitzende des V. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs in seiner Stellungnahme zutreffend hervorhebt, nur eine auf Ersuchen einer anderen Behörde geleistete ergänzende Hilfe (vgl. die Legaldefinition des § 4 Abs. 1 des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes in der bis zum 27. Dezember 2009 gültigen Fassung – HmbVwVfG 2009). Daraus ergibt sich, dass Amtshilfe notwendig auf bestimmte Teilakte eines Verwaltungsverfahrens begrenzt ist und nicht mit einer vollständigen Übernahme von Verwaltungsaufgaben einhergehen darf. Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht geht die dem Grundsatz nach in Art. 35 Abs. 1 GG normierte Amtshilfe nicht über eine Aushilfe im Einzelfall hinaus (vgl. BVerfGE 63, 1 ≪32≫). Amtshilfe besteht demnach in dem lediglich ergänzenden Beistand, den eine Behörde einer anderen leistet, um dieser die Durchführung ihrer öffentlichen Aufgaben zu ermöglichen oder zu erleichtern (vgl. Bauer, in: Dreier, GG, Bd. 2, 1998, Art. 35 Rn. 11). Sie beschränkt sich auf ein punktuelles Zusammenwirken mit Ausnahmecharakter (vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG für die Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. 2009, Art. 35 Rn. 4).
(b) Demnach handelte es sich – ungeachtet der Verwendung der Bezeichnung „Amtshilfe” durch beide beteiligten Behörden – bei dem Haftantrag der Hamburger Ausländerbehörde nicht um eine von § 4 Abs. 1 HmbVwVfG 2009 erfasste Amtshilfehandlung. Dies ergibt sich bereits aus dem Schreiben des Kreises Unna vom 3. August 2009, welches sich nicht darauf beschränkt, die Hamburger Ausländerbehörde um eine einzelne Unterstützungshandlung zu ersuchen. Vielmehr beinhaltet das Schreiben die Bitte, „die Abschiebung des Betroffenen in Amtshilfe zu organisieren, ggf. die Haft zur Sicherung der Abschiebung zu beantragen und wenn notwendig die Passersatzpapierbeschaffung einzuleiten”. Der Kreis Unna gab damit das weitere Verfahren der Abschiebung aus der Hand und legte es in die Verantwortung der Hamburger Ausländerbehörde. Eigene weitere Maßnahmen seitens des Kreises Unna zum Zwecke der erstrebten Abschiebung waren nicht vorgesehen und wären angesichts der gewählten Vorgehensweise auch nicht mehr möglich gewesen, zumal sich der Kreis Unna offensichtlich keine Kontroll- oder Einflussmöglichkeiten auf künftige Verfahrensschritte vorbehalten hatte. Dieses Vorgehen übersteigt die Grenzen eines Amtshilfeersuchens und kommt einer Abgabe des Verfahrens gleich.
Eine dem entsprechende Übernahmeabsicht offenbart sich in dem Haftantrag der Hamburger Ausländerbehörde vom 12. August 2009, worin diese erklärt, den Beschwerdeführer im Anschluss an das gegen ihn geführte Strafverfahren aus der Haft heraus in die Türkei abschieben zu wollen. Hierhin liegt ersichtlich eine über eine Hilfeleistung bei einzelnen Verfahrenshandlungen hinausgehende Übernahme des Verfahrens in Bezug auf alle für die erstrebte Abschiebung erforderlichen Verfahrenshandlungen. Die Hamburger Ausländerbehörde brachte in dem Haftantrag zum Ausdruck, dass sie die Verantwortung für die gesamte weitere Durchführung des Abschiebungsverfahrens und der damit verbundenen Schritte bei sich sieht.
(c) Darüber hinaus wären auch die Voraussetzungen für ein Tätigwerden in Amtshilfe offensichtlich nicht erfüllt. Das Oberlandesgericht legt seiner Entscheidung – ohne die Vorschrift zu nennen – § 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG 2009 zu Grunde, wonach eine Behörde insbesondere dann um Amtshilfe ersuchen kann, wenn sie die Amtshandlung nur mit wesentlich größerem Aufwand vornehmen könnte als die ersuchte Behörde. Dieses Erfordernis sieht das Oberlandesgericht als erfüllt an und stellt unter anderem darauf ab, dass der Beschwerdeführer in Hamburg aufgegriffen worden war und sich dort in Untersuchungshaft befand. Daher sei es zweckmäßig gewesen, die Abschiebung einschließlich der Stellung eines Haftantrages durch die Hamburger Ausländerbehörde zu organisieren. Eine Überstellung des Beschwerdeführers in den Zuständigkeitsbereich des Kreises Unna sei demgegenüber ebenso untunlich wie eine Durchführung der Abschiebung von Hamburg aus durch die Ausländerbehörde Unna.
Diese Erwägungen sind nicht geeignet, eine zur Amtshilfe berechtigende und verpflichtende Situation im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG 2009 zu begründen. Ausgehend von der Qualifizierung der Amtshilfe als ergänzende Unterstützung wäre im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG 2009 für die Ermittlung des Aufwandes nicht auf das gesamte Verwaltungsverfahren, sondern nur auf den Teilakt abzustellen gewesen, für den die Erforderlichkeit einer Amtshilfe festgestellt werden soll. Dies betraf hier allein die Stellung des Haftantrages. Auf die Frage, ob die zuständige Behörde auch für weitere Verfahrensschritte Amtshilfe in Anspruch nehmen kann, kommt es demgegenüber nicht an (vgl. nur OLG Köln, Beschluss vom 15. Oktober 2008 – 16 Wx 215/08 –, juris, Rn. 8 f.).
Es ist nichts dafür ersichtlich, dass es für die Ausländerbehörde des Kreises Unna einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeutet hätte, selbst den Haftantrag zu stellen. Die Übermittlung des schriftlichen Haftantrages an das Amtsgericht Hamburg – etwa per Telefax – wäre für sie nicht mit größerem Aufwand verbunden gewesen als für die Hamburger Ausländerbehörde. Davon getrennt zu beantworten wäre die Frage gewesen, ob etwa für die Wahrnehmung des Anhörungstermins vor dem Amtsgericht oder andere Verfahrensschritte eine Amtshilfe zulässig gewesen wäre.
bb) Es lässt sich auch nicht feststellen, dass die Gerichte im Ergebnis aus anderen, ohne weiteres erkennbaren Gründen zu Recht die Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde angenommen haben (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫). Das Landgericht und das Oberlandesgericht sind vielmehr zu Recht von einer originären örtlichen Zuständigkeit nur des Kreises Unna ausgegangen. Eine originäre örtliche Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde ergibt sich aus der mangels Regelung im Aufenthaltsgesetz einschlägigen landesrechtlichen Bestimmung des § 3 HmbVwVfG 2009 nicht. Insbesondere fehlen für einen die Zuständigkeit begründenden gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 3a HmbVwVfG 2009 zum Zeitpunkt der Haftantragstellung zureichende Anhaltspunkte dafür, dass der erst kurz zuvor in das Bundesgebiet eingereiste Beschwerdeführer bereits zum damaligen Zeitpunkt beabsichtigte, sich nicht nur vorübergehend in Hamburg aufzuhalten (vgl. die Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I). Die gegen den Beschwerdeführer angeordnete Untersuchungshaft ist angesichts deren vorläufigen Charakters ebenfalls nicht geeignet, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen. Für eine Eilzuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde nach § 3 Abs. 5 Satz 1 HmbVwVfG 2009 wegen Gefahr im Verzug besteht bereits angesichts des zwischen der Kenntniserlangung der Behörde von der Festnahme des Beschwerdeführers und der Stellung des Haftantrages liegenden Zeitraumes von über einer Woche kein Anhaltspunkt.
Soweit der Kreis Unna in seiner Stellungnahme auf die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (AufenthG-VwV) Bezug nimmt – hier in Betracht zu ziehen wäre allenfalls eine Bezugnahme auf die zum Zeitpunkt der Haftantragstellung geltenden Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 22. Dezember 2004 –, ist daran zu erinnern, dass Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG bei Freiheitsbeschränkungen auch Zuständigkeitsfragen in den Vorbehalt des Gesetzes einbezieht (vgl. BVerfGE 105, 239 ≪247≫) und Verwaltungsvorschriften insoweit eine Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung nicht rechtfertigen können (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2010, a.a.O., Rn. 43).
C.
Die Kammer hebt nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 24. Februar 2010 auf und verweist die Sache an das Hanseatische Oberlandesgericht zurück.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2, Abs. 3 BVerfGG.
Unterschriften
Di Fabio, Gerhardt, Hermanns
Fundstellen
Haufe-Index 2729705 |
NJW 2011, 3640 |
NVwZ 2011, 1254 |
DÖV 2011, 817 |
InfAuslR 2011, 358 |
ZAR 2011, 408 |
NPA 2012 |