Verfahrensgang
LG Neubrandenburg (Beschluss vom 27.09.2006; Aktenzeichen 1 S 26/06) |
LG Neubrandenburg (Urteil vom 31.08.2006; Aktenzeichen 1 S 26/06) |
Tenor
- Der Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 27. September 2006 – 1 S 26/06 – verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Neubrandenburg zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat den Beschwerdeführern die ihnen im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000,00 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
1. Die Beschwerdeführer wurden von ihrem ehemaligen Rechtsanwalt auf Zahlung von Rechtsanwaltsvergütung in Höhe von 658,91 € nebst Zinsen verklagt. Widerklagend verfolgten sie gegen ihn einen Anspruch auf Zahlung von 500,00 € nebst Zinsen. Das Amtsgericht gab der Klage statt und wies die Widerklage ab. Das Landgericht wies die Berufung zurück. Gegen dieses Urteil legten die Beschwerdeführer gemäß § 321a ZPO Anhörungsrüge ein. Das Landgericht verwarf die Anhörungsrüge unter Berufung auf den Vorrang eines anderen Rechtsbehelfs gemäß § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO als unzulässig. Es meinte, die Beschwerdeführer hätten eine Nichtzulassungsbeschwerde einlegen und so den Zugang zum Revisionsverfahren eröffnen können und müssen.
2. Die Beschwerdeführer rügen mit ihrer gegen das Urteil und den Beschluss des Landgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie von Art. 103 Abs. 1 GG. Die Verwerfung ihrer Anhörungsrüge habe nicht mit der Möglichkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde begründet werden dürfen, denn eine solche wäre zweifellos unzulässig gewesen. Da sie durch das Urteil des Landgerichts nur in Höhe von 1.158,91 € beschwert seien, hätten sie den gemäß § 26 Nr. 8 EGZPO für Nichtzulassungsbeschwerden zum Bundesgerichtshof erforderlichen Beschwerdewert offensichtlich nicht erreicht.
3. Das Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern und der Kläger des Ausgangsverfahrens haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen vor, soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts über die Anhörungsrüge richtet.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Annahme eines Verstoßes gegen den für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (vgl. BVerfGE 93, 99 ≪107 f.≫; 107, 395 ≪401 ff.≫) sind ebenso geklärt wie diejenigen eines Verstoßes gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪408 ff.≫).
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts ist zur Durchsetzung der Ansprüche der Beschwerdeführer auf effektiven Rechtsschutz und auf Gewährung rechtlichen Gehörs angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), denn sie ist insoweit offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
a) Das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung ihres Vorbringens mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Insbesondere sichert es, dass sie mit Ausführungen und Anträgen gehört werden. Dementsprechend bedeutsam für den Rechtsschutz ist die Möglichkeit der Korrektur einer fehlerhaften Verweigerung rechtlichen Gehörs. Erst die Beseitigung eines solchen Fehlers eröffnet das Gehörtwerden im Verfahren. Dann steht der Weg zum Gericht nicht nur formal offen. Dies schafft einen wesentlichen Teil der Rechtfertigung dafür, dass der Gesetzgeber es den Beteiligten zumutet, die Entscheidung gegebenenfalls ohne weitere Korrekturmöglichkeit hinzunehmen. Nicht nur die individualrechtssichernde, sondern auch die über den Einzelfall hinausreichende objektivrechtliche Bedeutung der Gehörsgarantie ist eine wesentliche Grundlage der Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats und der Erwartung an die Bürger, sich zur Streitbeilegung auf das Gerichtsverfahren einzulassen. Art. 103 Abs. 1 GG steht daher in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie (vgl. BVerfGE 81, 123 ≪129≫), aufgrund derer die Gerichte durch ihre Auslegung und Anwendung des Prozessrechts den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren dürfen (vgl. BVerfGE 77, 275 ≪284≫). Während die Rechtsschutzgarantie den Zugang zum Verfahren sichert, zielt Art. 103 Abs. 1 GG auf einen angemessenen Ablauf des Verfahrens: Wer bei Gericht formell ankommt, soll auch substantiell ankommen, also wirklich gehört werden. Wenn ein Gericht im Verfahren einen Gehörsverstoß begeht, vereitelt es die Möglichkeit, eine Rechtsverletzung vor Gericht effektiv geltend zu machen (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪409≫).
Die nähere Ausgestaltung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG bleibt grundsätzlich den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen (vgl. BVerfGE 74, 228 ≪233≫; 89, 28 ≪35≫). Dabei können die einfachrechtlichen Gewährleistungen des rechtlichen Gehörs in den Verfahrensordnungen über das spezifisch verfassungsrechtlich gewährleistete Ausmaß an rechtlichem Gehör hinausreichen. Insoweit stellt eine Verletzung einfachrechtlicher Bestimmungen nicht zwangsläufig zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar (vgl. BVerfGE 60, 305 ≪310≫). Jedoch gebietet Art. 103 Abs. 1 GG, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Ausmaß an rechtlichem Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem in bürgerlichrechtlichen Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden, und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfGE 74, 228 ≪233≫). Die Verletzung einer entsprechenden Verfahrensbestimmung stellt deshalb zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar, wenn das Gericht bei der Auslegung oder Anwendung der Verfahrensbestimmung die Bedeutung oder Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkannt hat (vgl. BVerfGE 74, 228 ≪233≫).
Nach dem Plenumsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2003 gehört es zu den rechtsstaatlichen Mindeststandards, dass eine zumindest einmalige gerichtliche Kontrolle der Einhaltung des grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör möglich ist (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪407≫). Ist noch ein Rechtsmittel gegen die gerichtliche Entscheidung gegeben, das auch zur Überprüfung der behaupteten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führen kann, ist dem Anliegen der Justizgewährung hinreichend Rechnung getragen. Erfolgt die behauptete Verletzung des Verfahrensgrundrechts in der letzten in der Prozessordnung vorgesehenen Instanz und ist der Fehler entscheidungserheblich, muss die Verfahrensordnung eine eigenständige gerichtliche Abhilfemöglichkeit vorsehen (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪410 f.≫).
§ 321a ZPO soll die Einhaltung dieser spezifischen verfassungsrechtlichen Anforderungen im zivilgerichtlichen Verfahren gewährleisten. Die Norm bewirkt bei behaupteten Gehörsverletzungen die Möglichkeit einer zumindest einmaligen Kontrolle durch ein Zivilgericht, indem § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO die Anhörungsrüge als statthaften Rechtsbehelf vorsieht, wenn kein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung gegeben ist. Auf diese Weise stellt die Norm sicher, dass der von der etwaigen Gehörsverletzung Betroffene dagegen einmal ein Fachgericht anrufen kann.
b) Daran gemessen verletzt der die Anhörungsrüge als unzulässig verwerfende Beschluss die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Er beruht auf einer fehlerhaften Anwendung des § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO. Diese fehlerhafte Rechtsanwendung hat im Ergebnis bewirkt, dass für die Beschwerdeführer der verfassungsrechtlich gebotene fachgerichtliche Schutz vor Gehörsverletzungen nicht wirksam wurde.
Der Beschluss des Landgerichts hält die Anhörungsrüge für unzulässig, weil die Beschwerdeführer Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544 ZPO) zum Bundesgerichtshof hätten einlegen können. Auf diese Begründung konnte die Verwerfung der Anhörungsrüge jedoch offensichtlich nicht gestützt werden. Die Nichtzulassungsbeschwerde stand nicht als anderer Rechtsbehelf im Sinne des § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO zur Verfügung, weil die Beschwer der Beschwerdeführer (1.158,91 €) die für Nichtzulassungsbeschwerden zum Bundesgerichtshof geltende Wertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO (20.000,00 €) nicht überschreitet und eine Nichtzulassungsbeschwerde deshalb offensichtlich unzulässig gewesen wäre. Das hat das Landgericht übersehen. Andere Umstände, die die Beurteilung der Anhörungsrüge als unzulässig rechtfertigen könnten, hat das Landgericht weder angeführt, noch sind solche ersichtlich. In der unvertretbaren Behandlung der Anhörungsrüge als unzulässig liegt eine Verletzung des Rechts der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip auf effektiven Rechtsschutz, da ihnen der Zugang zu einem fachgerichtlichen Rechtsbehelf versperrt wurde, sowie eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs, da sie infolgedessen entgegen der Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG mit ihrer Anhörungsrüge nicht substantiell beim Landgericht ankamen (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪409≫).
c) Der Beschluss beruht auf diesen Verfassungsrechtsverletzungen, weil nicht auszuschließen ist, dass das Landgericht bei einer Prüfung der Begründetheit der Anhörungsrüge zu einem für die Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
3. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landgerichts richtet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist dem Landgericht zunächst Gelegenheit zu geben, über die Anhörungsrüge zu befinden. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht die Rüge für begründet erachtet und das Verfahren fortführt, soweit dies aufgrund der Rüge geboten ist (§ 321a Abs. 5 Satz 1 ZPO). Dies kann zur Folge haben, dass im Ergebnis sämtliche geltend gemachten Verfassungsrechtsverletzungen beseitigt werden (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 21. September 2006 – 1 BvR 308/03 –, NJW 2007, S. 137 ≪138≫).
a) Durch die umfassende fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte soll dem Bundesverfassungsgericht ein geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Gerichte vermittelt werden (vgl. BVerfGE 68, 376 ≪380≫). Zugleich entspricht es der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, dass vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen selbst gewähren und etwaige im Instanzenzug auftretende Fehler durch Selbstkontrolle beheben (vgl. BVerfGE 68, 376 ≪380≫). Das Ziel eines effektiven Rechtsschutzes wird am wirkungsvollsten erreicht, wenn die Prüfung von gerichtlichen Gehörsverstößen und deren Beseitigung in erster Linie durch die Fachgerichte erfolgen, weil diese die Gehörsverstöße sachnah und zeitnah beheben können (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪410≫).
b) Diese Erwägungen gelten auch, wenn es darum geht, welches Gericht zur – gegebenenfalls nochmaligen – Entscheidung über die Frage einer Gehörsverletzung berufen ist. Hier kommt insbesondere dem Gesichtspunkt der größeren Sachnähe des betroffenen Fachgerichts erhebliches Gewicht zu. Das Fachgericht hat die zu überprüfende Entscheidung erlassen und kennt deshalb die Entscheidungsgrundlagen tatsächlich. Ob beispielsweise ein in der Entscheidungsbegründung nicht ausdrücklich erwähntes Vorbringen des Beschwerdeführers vom Fachgericht tatsächlich übersehen wurde oder ob dieses Vorbringen doch berücksichtigt wurde und nur nicht ausdrücklich verarbeitet wurde, kann das Fachgericht zuverlässiger und schneller nachvollziehen als das Bundesverfassungsgericht. Letzteres kann nur eine hypothetische Beurteilung anstellen. Entsprechendes gilt für die Frage, ob die Entscheidung bei Berücksichtigung des etwa übersehenen Aspekts anders hätte ausfallen können.
c) Sollten die Beschwerdeführer infolge der auf ihre Anhörungsrüge ergehenden Entscheidung des Landgerichts weiterhin beschwert sein, sind sie durch die allein auf dem Subsidiaritätsgedanken beruhende Nichtannahme nicht gehindert, eine neue Verfassungsbeschwerde gegen die sie belastenden Entscheidungen einzulegen.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2, Abs. 3 BVerfGG.
Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren beträgt, wenn der Verfassungsbeschwerde durch die Entscheidung einer Kammer stattgegeben wird, in der Regel 8.000,00 €. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen hier Besonderheiten auf, die eine Abweichung veranlassen würden.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Bryde, Eichberger, Schluckebier
Fundstellen
NJW 2007, 2241 |
www.judicialis.de 2007 |