Verfahrensgang
LG München I (Beschluss vom 27.10.2010; Aktenzeichen 22 Qs 77/10) |
AG München (Beschluss vom 30.08.2010; Aktenzeichen 933 Cs 498 Js 110165/10) |
Tenor
Die Beschlüsse des Landgerichts München I vom 27. Oktober 2010 – 22 Qs 77/10 – und des Amtsgerichts München vom 30. August 2010 – 933 Cs 498 Js 110165/10 – verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000,00 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl.
1. Mit Strafbefehl vom 6. Juli 2010 setzte das Amtsgericht München gegen den Beschwerdeführer wegen eines fahrlässig begangenen Delikts nach § 316 StGB eine Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen zu je 40,00 EUR fest. Dem lag der Vorwurf zugrunde, der Beschwerdeführer habe am 26. August 2009 gegen 12.45 Uhr mit seinem Motorroller am Straßenverkehr teilgenommen, obwohl er infolge des vorangegangenen Genusses berauschender Mittel fahruntüchtig gewesen sei. Dem Beschwerdeführer wurde die Fahrerlaubnis entzogen. Die Einziehung seines Führerscheins wurde angeordnet, eine Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis von acht Monaten festgesetzt sowie ein Fahrverbot von drei Monaten verhängt.
Der Strafbefehl ist dem Beschwerdeführer am 15. Juli 2010 durch Einwurf in den Hausbriefkasten seines ständigen Wohnsitzes im Inland zugestellt worden.
2. Mit Schreiben seines Verteidigers vom 10. August 2010 legte der Beschwerdeführer Einspruch gegen den Strafbefehl ein und beantragte wegen der versäumten Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er habe sich in der Zeit vom 12. Juli 2010 bis einschließlich 5. August 2010 urlaubsbedingt bei seinen Verwandten in Kroatien aufgehalten. Zur Glaubhaftmachung legte er eine eigene eidesstattliche Versicherung vor.
Mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 30. August 2010 wurde der Antrag des Beschwerdeführers als unbegründet verworfen. Die Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages seien nicht nach § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO glaubhaft gemacht, da bei längerfristiger Urlaubsabwesenheit besondere Vorkehrungen zu treffen seien, um rechtzeitig Kenntnis von Zustellungen zu erlangen.
3. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz seines Verteidigers sofortige Beschwerde ein. Zur Glaubhaftmachung wurde ergänzend eine weitere eidesstattliche Versicherung einer Verwandten, bei der sich der Beschwerdeführer in Kroatien aufgehalten habe, vorgelegt.
Die sofortige Beschwerde wurde mit Beschluss des Landgerichts München I vom 27. Oktober 2010 als unbegründet zurückgewiesen. Aufgrund der nunmehr vorgelegten eidesstattlichen Versicherung sei zwar glaubhaft gemacht, dass sich der Beschwerdeführer im Zeitraum der Zustellung des Strafbefehls in Kroatien aufgehalten habe. Er könne sich aber nicht auf den Grundsatz berufen, dass bei vorübergehender Abwesenheit keine Pflicht bestehe, Vorkehrungen zu treffen, um von Zustellungen Kenntnis zu erlangen. Denn er sei durch die Polizeibehörden als Beschuldigter vernommen worden; dabei seien ihm der Tatvorwurf und die gegen ihn geführten Ermittlungen bekannt gegeben worden.
Entscheidungsgründe
II.
1. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, durch die angegriffenen Gerichtsentscheidungen sei er in seinen Verfahrensgrundrechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
Die Gerichte im Wiedereinsetzungsverfahren hätten – soweit sie von ihm verlangt hätten, wegen seiner urlaubsbedingten Abwesenheit von drei Wochen besondere Vorkehrungen wegen möglicher Zustellungen zu treffen – die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung und damit zur Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs im Strafverfahren überspannt. Trotz Entnahme einer Blutprobe und der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens habe er nicht damit rechnen müssen, dass ihm etwa ein Jahr später während einer vorübergehenden Abwesenheit von seinem ständigen Wohnsitz für die Dauer von drei Wochen während der Hauptferienzeit ein Strafbefehl zugestellt werde.
2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme; es hat von einer Stellungnahme im Verfassungsbeschwerdeverfahren abgesehen.
3. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung der Verfahrensgrundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere war der Beschwerdeführer – trotz Rüge der Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG – nicht gehalten, zur Erschöpfung des Rechtsweges gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zuvor Anhörungsrüge nach § 33a StPO zu erheben. Er rügt nicht die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör im Wiedereinsetzungsverfahren, sondern die Versagung des rechtlichen Gehörs durch Verweigerung des Zugangs zum gerichtlichen Einspruchsverfahren als Ergebnis des Wiedereinsetzungsverfahrens. Er war daher nicht verpflichtet, mit einer Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO gegen den Beschluss des Landgerichts vorzugehen, weil dieses der behaupteten Gehörsverletzung durch das Amtsgericht nicht abgeholfen hat. Ein solches Vorgehen wäre nur dann erforderlich gewesen, wenn er eine neue und eigenständige Verletzung seines Gehörs durch das Landgericht hätte rügen wollen (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪411≫; BVerfGK 11, 390 ≪393≫; 13, 496 ≪499 f.≫).
2. Das Amtsgericht hat dadurch, dass es die Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist verweigert hat, den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG und seinem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts hat durch die Bestätigung der Entscheidung des Amtsgerichts den Verfassungsverstoß perpetuiert.
a) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt überlässt zwar die nähere Ausgestaltung des durch die Vorschrift garantierten Rechtsweges der jeweiligen Prozessordnung. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Prozessordnung dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren (vgl. BVerfGE 44, 302 ≪305≫; 52, 203 ≪207≫; 69, 381 ≪385≫). Insbesondere dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben und vorbringen muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 67, 208 ≪212 f.≫; 110, 339 ≪342≫).
Bei Versäumnis einer Frist – wie hier der Einspruchsfrist gegen den Strafbefehl – hängt die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, davon ab, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verlangt daher ebenfalls, bei Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden Vorschriften die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht zu überspannen (vgl. BVerfGE 25, 158 ≪166≫; 26, 315 ≪318≫; 31, 388 ≪390≫; 40, 46 ≪49 f.≫; 40, 95 ≪99≫). Dies gilt insbesondere in den Fällen des ersten Zugangs zum Gericht, in denen das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unmittelbar der Verwirklichung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsschutzgarantien dient (vgl. BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 54, 80 ≪83 f.≫; 67, 208 ≪212 f.≫).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf es dem Bürger nicht als ein die Wiedereinsetzung ausschließender Umstand zugerechnet werden, wenn er wegen einer nur vorübergehenden Abwesenheit von seiner ständigen Wohnung keine besonderen Vorkehrungen wegen der möglichen Zustellung eines Bußgeldbescheids oder Strafbefehls getroffen hat (vgl. BVerfGE 37, 100 ≪102≫; 40, 88 ≪91 f.≫; 40, 182 ≪186≫; 41, 332 ≪335≫). Es kommt nicht darauf an, ob die urlaubsbedingte Abwesenheit – wie hier – in die „allgemeine Ferienzeit” oder eine sonstige Jahreszeit fällt. Entscheidend ist allein, dass die Abwesenheit eine nur vorübergehende und relativ kurzfristige – längstens etwa sechs Wochen – von einer sonst ständig benutzten Wohnung ist (vgl. BVerfGE 40, 182 ≪186≫; 41, 332 ≪336≫). Das gilt auch dann, wenn er weiß, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, oder er als Beschuldigter oder Betroffener vernommen wurde (vgl. BVerfGE 25, 158 ≪166≫; 34, 154 ≪156 f.≫).
b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Die Gerichte im Wiedereinsetzungsverfahren haben die Anforderungen an die Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ersichtlich überspannt und dem Beschwerdeführer dadurch den ersten Zugang zum Gericht verwehrt.
aa) Sie beruhen auf der Annahme einer Obliegenheit, bereits bei einer vorübergehenden urlaubsbedingten Abwesenheit von nur etwa drei Wochen besondere Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Dies widerspricht den dargestellten verfassungsrechtlichen Maßstäben.
bb) Der Umstand, dass der Beschwerdeführer als Beschuldigter vernommen worden war und ihm der Tatvorwurf sowie die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekannt gegeben wurden, führt – entgegen der Auffassung des Landgerichts – zu keiner anderen Bewertung, zumal seit der Feststellung der Tat und der Anhörung des Betroffenen am 26. August 2009 bis zur Zustellung des Strafbefehls am 15. Juli 2010 fast ein Jahr vergangen war und daher für den Beschwerdeführer keine besondere Veranlassung bestand, die Zustellung eines Strafbefehls während der allgemeinen Urlaubszeit in Betracht zu ziehen.
3. Die angegriffenen Gerichtsbeschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts sind daher aufzuheben. Die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i. V. m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung im Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren beträgt mindestens 4.000,00 EUR und, wenn wie hier der Verfassungsbeschwerde durch die Entscheidung einer Kammer stattgegeben wird, in der Regel 8.000,00 EUR. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen Besonderheiten auf, die zu einer Abweichung Anlass geben.
Unterschriften
Lübbe-Wolff, Huber, Kessal-Wulf
Fundstellen
Haufe-Index 3495238 |
NJW 2013, 592 |
ZAP 2012, 1219 |
StRR 2012, 442 |
StV 2013, 545 |
VRA 2013, 15 |
VRR 2012, 443 |