Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Beschluss vom 21.12.2004; Aktenzeichen 24 CS 04.1101) |
VG München (Beschluss vom 29.03.2004; Aktenzeichen M 22 S 04.873) |
Tenor
Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. Dezember 2004 – 24 CS 04.1101 – und der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 29. März 2004 – M 22 S 04.873 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sache an das Bayerische Verwaltungsgericht München zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die sofortige Vollziehung einer Untersagungs- und Einstellungsverfügung betreffend den Betrieb einer Annahmestelle zur Vermittlung von Sportwetten.
1. Der Beschwerdeführer ist langjähriger Buchmacher für Pferdewetten und zum Betrieb des Buchmachergewerbes in Baden-Baden berechtigt. Am 8. Juli 2003 meldete er beim Landratsamt Fürstenfeldbruck die „Wettvermittlung im Wege der Geschäftsbesorgung an Wettunternehmer für Sportwetten” an und stellte zugleich Antrag auf Genehmigung eines entsprechenden Gewerbes. Die Wettvermittlung sollte zunächst an ein Unternehmen in Berlin erfolgen, dem unter der Geltung des Gewerberechts der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1990 eine Konzession zur gewerblichen Veranstaltung von Sportwetten erteilt worden war. Einen weiteren Betriebssitz zeigte der Beschwerdeführer gegenüber der Gemeinde Gröbenzell an. Ab dem 1. August 2003 nahm er anzeigegemäß in beiden Geschäften die Vermittlung von Sportwetten auf.
Das Landratsamt teilte dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 2. September 2003 mit, dass es dem Antrag nicht entsprechen könne. Ohne Erlaubnis durchgeführte Sportwetten seien nach § 284 Abs. 1 StGB als unerlaubtes Glücksspiel verboten. Dagegen wandte der Beschwerdeführer ein, dass die bloße Vermittlung von Wetten an ein konzessioniertes Unternehmen keiner gesonderten Erlaubnis bedürfe. Ein Anspruch auf Erteilung einer solchen ergebe sich notfalls aber aufgrund der „Gambelli”-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 6. November 2003 – Rs. C-243/01 –, GewArch 2004, S. 30).
Mit Bescheid vom 12. Januar 2004 untersagte das Landratsamt dem Beschwerdeführer den Betrieb der Wettvermittlung an Wettunternehmer für Sportwetten, verfügte die Einstellung des Betriebes und ordnete bei gleichzeitiger Androhung eines Zwangsgeldes die sofortige Vollziehung an. Das vorrangige öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Untersagungsverfügung ergebe sich aus der Verhinderung der weiteren Begehung von Straftaten bis zum Abschluss eines möglicherweise mehrjährigen Widerspruchs- und eventuellen Klageverfahrens.
2. a) Gegen den Bescheid des Landratsamtes erhob der Beschwerdeführer Widerspruch und stellte zugleich einen Antrag gemäß § 80 Abs. 4 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung durch die Behörde, den das Landratsamt jedoch ablehnte.
Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer beim Verwaltungsgericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Untersagungsverfügung. In diesem Zusammenhang teilte er mit, dass er im Hinblick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Gambelli” nunmehr an ein Unternehmen in Gibraltar/Großbritannien Sportwetten vermittele, das über eine ordnungsgemäße britische Konzession zur Veranstaltung von Sportwetten verfüge.
b) Mit Beschluss vom 29. März 2004 lehnte das Verwaltungsgericht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab.
Für die Abwägung der gegenläufigen Interessen an der sofortigen Vollziehung der Untersagungsverfügung einerseits und der aufschiebenden Wirkung des vom Beschwerdeführer eingelegten Rechtsbehelfs andererseits komme es entscheidend auf dessen voraussichtliche Erfolglosigkeit in der Hauptsache sowie auf das Fehlen eines rechtlich schützenswerten Interesses an der weiteren Ausübung einer illegalen Tätigkeit während der Dauer des Hauptsacheverfahrens an.
Bei summarischer Prüfung erweise sich die Verfügung des Landratsamtes als rechtmäßig.
Die vom Beschwerdeführer ausgeübte Tätigkeit des Vermittelns von Sportwetten in das EU-Ausland stelle eine strafbare Beihilfe zum seinerseits nach § 284 Abs. 1 StGB strafbaren öffentlichen Veranstalten von Glücksspielen ohne behördliche Erlaubnis dar. Das Verbot unerlaubten öffentlichen Glücksspiels durch § 284 Abs. 1 StGB stelle keine ungerechtfertigte Beschränkung der im europäischen Gemeinschaftsrecht garantierten Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit dar. Daran habe sich durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6. November 2003 (– Rs. C 243/01 „Gambelli” –, GewArch 2004, S. 30) nichts geändert. Eine Weiterentwicklung der bisherigen Rechtsprechung liege nur insoweit vor, als die Rechtfertigung beschränkender Maßnahmen nicht mehr möglich sein solle, wenn ein EU-Mitgliedstaat entgegen der zur Beschränkung vorgetragenen zwingenden Gründe des Allgemeininteresses durch seine Behörden die Bürger zur Teilnahme an Glücksspielen ermuntere. Für die Gemeinschaftsrechtskonformität des § 284 StGB seien daraus aber keine unmittelbaren Schlussfolgerungen zu ziehen.
Die Regelung des § 284 StGB verstoße nicht gegen Art. 12 GG. Für die Frage der Vereinbarkeit von § 284 Abs. 1 StGB mit der grundrechtlich garantierten Berufsfreiheit komme es nicht darauf an, ob die entsprechenden landesrechtlichen Regelungen die Möglichkeit der Erteilung einer Erlaubnis an private Unternehmer vorsehen müssten. Zwar könnte das Geschäftsgebaren des staatlichen Veranstalters von Oddset-Wetten die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines staatlichen Monopols zunehmend problematisch erscheinen lassen. Dies habe aber nicht die Erlaubnisfreiheit der Veranstaltung solcher Wetten zur Folge. Vielmehr bestehe nach wie vor ein dringendes Bedürfnis nach staatlicher Kontrolle von Wettbüros. § 284 Abs. 1 StGB enthalte insoweit ein eigenständiges Verbot der ungenehmigten Veranstaltung von Sportwetten durch Privatpersonen. Die weder gemeinschafts- noch verfassungsrechtlich zu beanstandende Strafbarkeit der Veranstaltung von Sportwetten ohne behördliche Erlaubnis im Sinne des § 284 Abs. 1 StGB entfalle auch nicht durch eine dem Veranstalter in einem anderen EU-Mitgliedstaat erteilte Erlaubnis.
3. a) Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer Beschwerde und legte Material zur Dokumentation des Werbeverhaltens insbesondere der bayerischen Lotterieverwaltung vor. Während des Beschwerdeverfahrens übersandte er mehrere Gerichtsentscheidungen, in denen von einer Anwendung des § 284 StGB aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Bedenken abgesehen wurde.
b) Der Verwaltungsgerichtshof wies die Beschwerde zurück. Das Verwaltungsgericht habe den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu Recht abgelehnt; denn die Untersagungsverfügung erweise sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig.
An der Vereinbarkeit des § 284 Abs. 1 StGB mit europäischem Gemeinschaftsrecht habe sich durch die „Gambelli”-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 6. November 2003 nichts geändert. Auch der am 1. Juli 2004 in Kraft getretene Staatsvertrag zum Lotteriewesen in Deutschland (BayGVBl 2004 S. 230) sehe in zulässiger Weise einen Ausschluss Privater von der Veranstaltung und Vermittlung von Glücksspielen vor. Soweit der Vertragspartner des Beschwerdeführers in Großbritannien wohl über eine Genehmigung verfüge, sei diese nicht geeignet, die in Bayern notwendige (beziehungsweise nicht mögliche) Erlaubnis zu ersetzen. Im Rahmen der vom Verwaltungsgericht getroffenen Interessenabwägung könne es keine Rolle spielen, ob und in welchem Umfang Strafverfahren mit ähnlichem oder vergleichbarem Inhalt eingestellt worden seien. Im Rahmen eines Strafverfahrens gälten andere Maßstäbe und Entscheidungsgrundsätze.
4. Mit seiner mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 sowie Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Verwaltungsgerichtshof hätten die Berufsfreiheit sowie den Anspruch des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz grundlegend verkannt. Beide Gerichte hätten eine Interessenabwägung ohne Bezug zum konkreten Einzelfall vorgenommen. Bei behördlichen Maßnahmen, die auf einen vorübergehenden Ausschluss der Berufsausübung hinausliefen, müsse bei der Interessenabwägung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zwingend auf den konkreten Einzelfall, namentlich darauf abgestellt werden, ob eine weitere Berufsausübung konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lasse.
Zur Vereinbarkeit von § 284 Abs. 1 StGB mit europäischem Gemeinschaftsrecht fehle eine Auseinandersetzung mit den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs. Es werde verkannt, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit, insbesondere aber der Gemeinschaftsrechtskonformität des staatlichen Monopols in Bayern, untrennbar mit der Frage der Anwendbarkeit der Strafnorm des § 284 Abs. 1 StGB verbunden sei. Beide Gerichte ließen den Grundsatz des Anwendungsvorrangs europäischen Gemeinschaftsrechts außer Acht, der für den Fall einer Unvereinbarkeit von nationalen Strafvorschriften mit europäischem Gemeinschaftsrecht zu deren Unanwendbarkeit führe. Der Beschwerdeführer dürfe hinsichtlich der Klärung der gemeinschaftsrechtlichen Auswirkungen auf die Strafbarkeit nach § 284 StGB nicht auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden, in dem voraussichtlich erst in einigen Jahren entschieden werde.
Schließlich sei ein Verstoß gegen das in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantierte Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter deshalb gegeben, weil sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Verwaltungsgerichtshof die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gemachten Vorgaben hinsichtlich der Prüfung der Vereinbarkeit nationaler Regelungen zur Reglementierung des Glücksspiels mit Gemeinschaftsrecht nicht beachtet hätten.
5. Zu der Verfassungsbeschwerde hat die Bayerische Staatsregierung durch das Bayerische Staatsministerium des Innern Stellung genommen. Dieses hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig und unbegründet. Das Landratsamt hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG).
1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG).
Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG durch die Nichtgewährung von einstweiligem verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪272 ff.≫; 35, 382 ≪397 ff.≫; 79, 69 ≪73 ff.≫; 79, 275 ≪278 f.≫; 93, 1 ≪12 ff.≫; jeweils m.w.N.).
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
a) Die fristgerecht erhobene Verfassungsbeschwerde ist – mit Ausnahme der Rüge des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG – zulässig.
Die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes kann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein. Die mit der Versagung einstweiligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes einhergehende sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes enthält eine selbständige Beschwer (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪340≫; 77, 381 ≪400≫; 79, 69 ≪73≫).
Zu deren Beseitigung kann es nach dem Grundsatz der Subsidiarität zwar über die Erschöpfung des im Verfahren einstweiligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegebenen Rechtsweges hinaus geboten sein, zunächst das Verfahren der Hauptsache zu betreiben. Diese Notwendigkeit entfällt aber, wenn eine Verletzung von Grundrechten, insbesondere eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG, durch die Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes geltend gemacht wird und somit speziell auf das Eilverfahren bezogene Verfassungsverstöße gerügt werden (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪340≫; 79, 275 ≪279≫; 93, 1 ≪12≫). Dies ist hier der Fall.
Demgegenüber fehlt es nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers an der Möglichkeit einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Eine Vorlagepflicht nach Art. 243 EG, hinsichtlich deren Missachtung hier eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter allein gegeben sein könnte, existiert im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO selbst dann nicht, wenn die betreffende gerichtliche Entscheidung mit keinen weiteren Rechtsmitteln angefochten werden kann.
b) Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs und der Beschluss des Verwaltungsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.
aa) Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 93, 1 ≪13≫; stRspr). Den Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes müssen die Gerichte auch bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 79, 69 ≪74≫).
Die Gerichte haben die verfassungsrechtliche Relevanz des in § 80 VwGO geregelten Rechtsschutzsystems zu beachten (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪372≫). Das verwaltungsgerichtliche Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ist eine Ausprägung des grundgesetzlich garantierten Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪275≫). Die Vorschrift des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ermöglicht es der Behörde, die besondere Schutzfunktion, die der aufschiebenden Wirkung als eines Grundsatzes des öffentlichrechtlichen Prozesses zukommt, durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes aufzuheben (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪273≫). Dagegen erhält der Bürger nach § 80 Abs. 5 VwGO die – nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotene – Möglichkeit, eine richterliche Entscheidung über die Frage herbeizuführen, ob die Behörde rechtmäßig handelt, wenn sie den sofortigen Vollzug eines belastenden Verwaltungsaktes mit allen sich daraus ergebenden Folgen anordnet, obwohl dieser weder formell unanfechtbar noch über seine materielle Rechtmäßigkeit gerichtlich entschieden worden ist (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪275≫). Die Gewährleistung effektiven Eilrechtsschutzes dient damit vor allem bei eingreifendem Verwaltungshandeln der Sicherung grundrechtlicher Freiheit, wie sie etwa Art. 12 Abs. 1 GG betreffend berufliche Tätigkeiten garantiert.
Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet zwar nicht schlechthin die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪402≫). Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch die nach § 80 Abs. 5 VwGO vorgesehene Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung muss aber nur insoweit zurückstehen, als es im Einzelfall um die Abwendung gewichtiger konkreter Gefahren geht. Denn die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes setzt ein besonderes öffentliches Interesse voraus, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪402≫; 38, 52 ≪58≫).
Ein solches besonderes öffentliches Interesse ist zwar in der Regel bei der Untersagung strafbaren Verhaltens durch Verwaltungsakt gegeben, da an der Unterbindung der Begehung oder Fortsetzung von Straftaten ein erhebliches öffentliches Interesse besteht. Dies setzt jedoch voraus, dass die Strafbarkeit des in Rede stehenden Verhaltens im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. Je unsicherer aber eine Strafbarkeit prognostiziert werden kann, desto weniger ist allein der Verweis darauf geeignet, das öffentliche Vollzugsinteresse zu begründen. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Anwendbarkeit der Strafnorm selbst, zum Beispiel aus europarechtlichen Gründen, zweifelhaft ist. In einer solchen Situation bedarf es nicht zuletzt wegen der materiell grundrechtsgewährleistenden Funktion effektiven Rechtsschutzes der Benennung von über die Strafbarkeit hinaus gehender konkreter Gefahren für das Allgemeinwohl.
bb) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Die Verwaltungsgerichte haben ihre Auffassung von der gemeinschaftsrechtlichen Vereinbarkeit des § 284 StGB in der Art einer Hauptsacheentscheidung begründet, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass es – wie dargelegt – im vorliegenden Eilverfahren bei der Feststellung eines besonderen öffentlichen Vollzugsinteresses darüber hinaus auch darauf ankommt, mit welcher Gewissheit die Strafbarkeit festgesetellt werden kann. Da die Verwaltungsgerichte diese Anforderung nicht erkannt haben, können ihre Ausführungen zur summarischen Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Vereinbarkeit des § 284 StGB auch nicht in dem Sinn verstanden werden, dass die Vereinbarkeit als zweifelsfrei angesehen wird. Angesichts der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Gambelli” (Urteil vom 6. November 2003) und ihrer Rezeption durch Rechtsprechung und Literatur (vgl. etwa Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 52. Aufl., 2004, § 284 Rn. 7 und 11; Kühl, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 25. Aufl., 2004, § 284 Rn. 12; Eser/Heine, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 26. Aufl., 2001, § 284 Anm. IX; Landgericht Hamburg, Beschluss vom 12. November 2004 – 629 s 56/04 –, NStZ-RR 2005, S. 44; Landgericht München I, Beschluss vom 27. Oktober 2003 – 5 Qs 41/03 –, NJW 2004, S. 171; Landgericht Wuppertal, Beschluss vom 17. August 2004 – 30 Qs 3/04 –; Landgericht Baden-Baden, Beschluss vom 2. Dezember 2004 – 2 Qs 157/04 –; Amtsgericht Heidenheim, Urteil vom 19. August 2004 – 3 Ds 42 Js 5187/03 – AK 424/03 –, JURIS; Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 18. Januar 2005 – 3 MB 80/04 –; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Dezember 2004 – BS 28/04 –; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 9. Februar 2004 – 11 TG 3060/03 –, GewArch 2004, S. 153) könnten erhebliche Zweifel an der gemeinschaftsrechtlichen Vereinbarkeit des § 284 StGB auch nicht ohne Verstoß gegen das Willkürverbot ausgeschlossen werden.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichthofs betrifft nicht nur die europarechtliche Zulässigkeit mitgliedstaatlicher Glücksspielmonopole, sondern stellt auch die Frage, ob deren Strafbewehrung am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts scheitert. Die Vorlage zum Europäischen Gerichtshof in der Sache „Gambelli” erfolgte nämlich in einem Strafverfahren, und die Prüfung der Vereinbarkeit mit gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten bezieht sich ausdrücklich auf Vorschriften, nach denen in Italien unter anderem die Vermittlung von Wetten ohne die nach anderen Rechtsvorschriften erforderliche Genehmigung unter Strafe gestellt ist (vgl. Rn. 9 des Urteils vom 6. November 2003). Die Beschränkung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie die Anforderungen einer möglichen Rechtfertigung werden gerade mit Blick auf mitgliedstaatliche Strafvorschriften gewürdigt und den nationalen Gerichten die Prüfung auferlegt, ob eine Bestrafung einer Person, die Wetten an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Buchmacher vermittelt, eine unverhältnismäßige Sanktion darstellt (vgl. Rn. 44 und 50 sowie Rn. 58 f. und 72 des Urteils vom 6. November 2003). Zudem hält der Europäische Gerichtshof im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung die Erforderlichkeit einer Strafsanktion unter anderem auch dann für überprüfungsbedürftig, wenn der Leistungserbringer, an den vermittelt wird, im Mitgliedstaat der Niederlassung einer Kontroll- und Sanktionsregelung unterliegt (vgl. Rn. 73 des Urteils vom 6. November 2003).
Angesichts dieser Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs könnte im verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren die Konformität der deutschen Rechtslage mit Gemeinschaftsrecht kaum ohne eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof festgestellt werden. Sie kann daher auch nicht bei der Bewertung des besonderen Vollzugsinteresses im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren als ausreichend sicher behandelt werden.
cc) Unter diesen Umständen bedarf die Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung der Begründung mit konkreten Gefahren für das Gemeinwohl. Im Rahmen dieser Prüfung ist für Verwaltung und Verwaltungsgerichte die Kontrolle der Vermittlung von Sportwetten zur Vermeidung von konkreten Gefahren auch unter Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben möglich (vgl. etwa Verwaltungsgericht Aachen, Beschluss vom 12. November 2004 – 3 L 17/04 –, JURIS).
III.
Mit dieser Entscheidung erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Haas, Hömig, Bryde
Fundstellen
Haufe-Index 1986065 |
NJW 2006, 429 |
NVwZ 2005, 1303 |
WM 2005, 1141 |
AfP 2005, 577 |
GewArch 2005, 246 |
WRP 2005, 1003 |
ZUM 2005, 553 |
BayVBl. 2005, 562 |
NPA 2006, -- |