Leitsatz (amtlich)

1. Zur Verwirklichung des verfassungsrechtlich gebotenen effektiven Rechtsschutzes kommt eine Befriedigungsverfügung in vorweggenommener Erfüllung des Hauptsacheanspruchs in Betracht, wenn das Unterbleiben der einstweiligen Verfügung zu einer existenziellen Notlage oder zu irreparablen Schädigungen des Antragstellers führt und keine vergleichbaren Nachteile zulasten des Antragsgegners einzutreten drohen.

2. Besteht zwischen der Antragstellerin und der Muttergesellschaft ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag, nach dessen § 3 Abs. 1 für die Verlustübernahme § 302 AktG gilt, lässt sich allein aus der finanziellen Situation der Antragstellerin eine Existenzgefährdung nicht herleiten.

 

Normenkette

AktG § 302; ZPO §§ 935, 940

 

Verfahrensgang

LG Düsseldorf (Aktenzeichen 36 O 47/22)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin vom 05.10.2022 gegen den Beschluss der 6. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Düsseldorf vom 30.09.2022 (Az. 36 O 47/22) in der Fassung des Nichtabhilfebeschlusses vom 05.10.2022 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Der Beschwerdewert wird auf 30 Mio. EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Antragstellerin ist ein deutsches Gashandelsunternehmen, das unter anderem Stadtwerke und Industrieunternehmen in Deutschland mit Erdgas beliefert. Sie ist eine 100 %ige Tochtergesellschaft der V.-AG, an der die EnBW Energie Baden-Württemberg AG (EnBW) mehrheitlich beteiligt ist. Zwischen der Antragstellerin und der Muttergesellschaft als beherrschendem Unternehmen besteht ausweislich des Handelsregisterauszugs des AG X. seit dem Jahr 2014 ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag.

Die Antragstellerin hat mit der Antragsgegnerin, einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft der PAO Gazprom (öffentliche Aktiengesellschaft nach russischem Recht), im Jahr 2019 einen Erdgasliefervertrag ... abgeschlossen, der die Antragsgegnerin zur Lieferung von Erdgas an die Antragstellerin bis zum 1. Januar 2023 zu festgelegten Preisen ... verpflichtet. Lieferpunkt ist der sog. Virtual Trading Point Trading Hub Europe (VTP THE). Die Antragsgegnerin hat die vertraglich vereinbarten Liefermengen zunächst reduziert und am 31.08.2022 die Gaslieferungen vollständig eingestellt. Sie hat sich darauf berufen, aufgrund höherer Gewalt von ihrer Lieferverpflichtung befreit zu sein, da die drei zum Transport von Erdgas zur Verfügung stehenden Pipelines nicht mehr von ihr genutzt werden könnten und ihr ein Einkauf von Gas auf dem europäischen Markt nicht möglich sei.

Die Antragstellerin begehrt, im Wege der einstweiligen Verfügung die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Erdgaslieferungen an sie einstweilen bis zum 1.01.2023, 8:00 Uhr (CET) - hilfsweise bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, höchst hilfsweise befristet bis zum 31.10.2022 und äußerst hilfsweise bis zur Bescheidung ihres Antrags auf staatliche Stützung nach § 29 EnSiG durch das BMWK - fortzusetzen gemäß den zwischen den Parteien vereinbarten Mengen und Konditionen. Sie hat geltend gemacht, die Antragsgegnerin verweigere zu Unrecht die geschuldete Gaslieferung. Sie könne sich nicht auf ein Entfallen ihrer Leistungspflicht nach der "Force Majeure"- Regelung ... berufen, da sie verpflichtet sei, alle bestehenden Bezugsmöglichkeiten zu nutzen, um ihren vertraglichen Pflichten nachzukommen, etwa durch Beschaffung der Erdgasmengen auf dem Markt oder Lieferung von im Gasspeicher U. gespeicherter Gasmengen. Als Tochtergesellschaft des russischen Staatsunternehmens Gazprom könne sie sich ohnehin nicht auf angebliche Leistungshindernisse berufen, die vom russischen Staat gezielt geschaffen worden seien, um Gaslieferungen an deutsche Unternehmen durch Unternehmen des russischen Konzerns Gazprom zu verhindern. Die beantragte Leistungsverfügung sei hier ausnahmsweise zu erlassen, weil sie - die Antragstellerin - für ihr wirtschaftliches Überleben zwingend auf die Lieferung durch die Antragsgegnerin zu den vertraglich vereinbarten Konditionen angewiesen sei. Angesichts von Mehrkosten für die Ersatzbeschaffungen in Höhe von täglich bis zu 14 Mio. EUR werde sie in unmittelbarer Zukunft nicht mehr zu einer weiteren Ersatzbeschaffung in der Lage sein. Die Wiederaufnahme der Erdgaslieferungen durch die Antragsgegnerin sei deshalb zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit und der Stabilisierung des Gasmarktes in Deutschland geboten. Sie - die Antragstellerin - könne den ihr entstehenden Schaden auch nicht anderweitig abwenden. Eine Genehmigung nach § 27 EnSiG zur Ausübung eines Leistungsverweigerungsrechts gegenüber ihren Kunden aufgrund des Lieferausfalls ihrer Vorlieferantin habe die Bundesnetzagentur (BNetzA) u.a. mit der Begründung abgelehnt, dass eine Weiterbelieferung der Kunden der Antragstellerin zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit zwingend erforderlich sei. Würde die Leistungsverfügung nicht erlassen, wäre nicht nur ihre wirtschaftliche Existenz gefährdet, sondern maßgeblich die Sicherheit der Gasversorgung in der gesamten Bundesrepu...

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