Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflichten des Radfahrers beim Überholen eines anderen Radfahrers - Individualisierung des Streitgegenstandes beim Teilschmerzensgeld

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Radfahrer muss grundsätzlich mit Schwankungen in der Fahrlinie eines vorausfahrenden Radfahrers rechnen. Ein Seitenabstand von ca. 32 cm beim Überholen (gemessen zwischen den Körpern der beiden Radfahrer) ist daher - jedenfalls auf einem unebenen Sand-Schotter-Weg - in der Regel zu gering.

2. Ist auf einem 2 Meter breiten Radweg ein Überholen mit ausreichendem Seitenabstand nicht möglich, muss der schnellere Radfahrer gegebenenfalls vom Überholen absehen. Offen bleibt, ob ein Überholen mit geringerem Seitenabstand in Betracht kommt, wenn vor dem Überholvorgang eine Verständigung zwischen den Radfahrern stattgefunden hat.

3. Ein Radfahrer, dessen Fahrlinie auf einem 2 Meter breiten Sand-Schotter-Weg einen Seitenabstand von ca. 80 cm zum rechten Rand des Weges einhält, verstößt nicht gegen das Rechtsfahrgebot.

4. Wird bei einem gesundheitlichen Dauerschaden der Schmerzensgeld-Leistungsantrag in der Klagebegründung ausschließlich mit denjenigen immateriellen Beeinträchtigungen begründet, die der Kläger bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erlitten hat, handelt es sich um eine offene Teilklage. Sämtliche immateriellen Folgen in der Zeit nach diesem Zeitpunkt (Schmerzen, Bewegungseinschränkungen, ärztliche Behandlungen etc.) werden von dem im Urteil zuerkannten Teilschmerzensgeld nicht erfasst.

 

Normenkette

BGB § 823 Abs. 1, § 254 Abs. 1; StVO § 2 Abs. 2, § 5 Abs. 4 S. 2; ZPO § 253 Abs. 2 Ziff. 2, § 322 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Konstanz (Urteil vom 30.04.2015; Aktenzeichen 3 O 140/14 B)

 

Tenor

Der Senat erwägt eine Zurückweisung der Berufung des Beklagten gegen das Urteil des LG Konstanz vom 30.04.2015 gemäß § 522 Absatz 2 ZPO. Die Parteien erhalten vor einer Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen.

 

Gründe

I. Die Klägerin macht nach einem Fahrradunfall Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche gegen den Beklagten geltend.

Am Nachmittag des 05.05.2014 befuhr die Klägerin mit ihrem Fahrrad einen Radweg von K. nach W.. Es handelt sich um einen Sand-Schotter-Weg, der im Bereich der Unfallstelle etwa zwei Meter breit ist. Die Klägerin hielt mit ihrem Rad eine Fahrlinie ein, die etwas rechts von der Mitte des Weges verlief. Der Beklagte befuhr mit seinem Fahrrad den Weg in der gleichen Richtung. Er näherte sich der Klägerin von hinten und wollte sie links überholen. Während des Überholvorgangs berührte der Beklagte mit seiner rechten Schulter die Klägerin an ihrer linken Schulter. Die Klägerin stürzte und zog sich eine komplizierte Humerusfraktur zu, die zwei Operationen erforderlich machte. Die weiteren Einzelheiten des Unfallablaufs und die Einzelheiten der Verletzungsfolgen sind zwischen den Parteien streitig.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt, wie folgt zu erkennen:

1. Den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld aus dem Fahrradunfall vom 05.05.2014, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, das den Betrag von 12.500,00 EUR jedoch nicht unterschreiten sollte, nebst 5 % Zinsen hieraus über dem derzeit gültigen Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen.

2. Den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 1.441,83 EUR nebst 5 % Zinsen über dem derzeit gültigen Basiszinssatz hieraus seit Klagezustellung zu zahlen.

3. Den Beklagten zu verurteilen, den Haushaltsführungsschaden in Höhe von 2.231,25 EUR nebst 5 % Zinsen hieraus seit Klagezustellung zu zahlen.

4. Den Beklagten zu verurteilen, Lohnausfall in Höhe von 386,99 EUR nebst 5 % Zinsen hieraus seit Klagezustellung zu zahlen.

5. Festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, alle weiteren zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Fahrradunfall vom 05.05.2014 zu zahlen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

6. Den Beklagten zu verurteilen, die außergerichtlich entstandenen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 650,34 EUR nebst 5 % Zinsen über dem derzeit gültigen Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen.

Der Beklagte ist den Anträgen entgegengetreten.

Das LG hat Beweis erhoben durch Einnahme eines Augenscheins, Anhörung der Parteien und Vernehmung des Ehemannes der Klägerin als Zeugen. Mit Teilend- und Teil-Grundurteil vom 30.04.2015 hat das LG sodann wie folgt entschieden:

1. Die Klage der Klägerin auf Ersatz der mit Klageanträgen Ziffer 1 bis 4 und

Ziffer 6 geltend gemachten materiellen und immateriellen Schäden wegen des Unfalls vom 05.05.2014 ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle weiteren zukünftigen materiellen und weiteren immateriellen Schäden, die nicht durch die Entscheidung über den Antrag Ziffer 1 erfasst werden, aus dem Fahrradunfall vom 05.05.2014 zu ersetzen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Zur Begründung hat da...

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