Leitsatz (amtlich)

Zur Abwägung zwischen dem Recht auf Schutz der Persönlichkeit und Ehre und dem Recht auf freie Meinungsäußerung bei der Äußerung "Er ist Antisemit [...]. Aber das ist strukturell nachweisbar."

 

Normenkette

BGB § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 S. 2; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Regensburg (Aktenzeichen 62 O 1925/17)

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 11.11.2021; Aktenzeichen 1 BvR 11/20)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 17.07.2018, Az. 62 O 1925/17, wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1. genannte Urteil des Landgerichts Regensburg ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 15.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

A. Die Parteien streiten um Ansprüche auf Unterlassung und Erstattung von Rechtsanwaltskosten im Zusammenhang mit einer Bezeichnung des Klägers als Antisemiten durch die Beklagte.

I. 1. Der Kläger ist ein deutscher Sänger.

Er verfasste im Jahr 2009 das Lied "Raus aus dem Reichstag". Eine Strophe darin lautet:

"Wie die Jungs von der Keinherzbank, die mit unserer Kohle zocken Ihr wart sehr, sehr böse, steht bepisst in euren Socken Baron Totschild gibt den Ton an, und er scheißt auf euch Gockel Der Schmock ist'n Fuchs und ihr seid nur Trottel".

Im Jahr 2017 verfasste er zusammen mit den "S... M..." das Lied "Marionetten". Eine Strophe darin lautet:

"Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein? Seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter

Diese Lieder sowie die Einstellung des Klägers waren Gegenstand eines Berichts des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages (Bundestagsdrucksache 18/11970 S. 174/175, Anlage B 2) sowie mehrerer Zeitschriften und Zeitungen (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.05.2017, Spiegel vom 05.05.2017, Die Tageszeitung vom 09.05.2017, Huffpost vom 16.10.2014; Anlagenkonvolut B 5).

Im Jahr 2014 hielt der Kläger eine Rede bei einer Versammlung der "Reichsbürger" in Berlin.

Der Kläger gab im Jahre 2005 in der Oper in T...(Ort) anlässlich des 40jährigen Jubiläums der deutsch-israelischen Beziehungen ein Konzert. Er unterstützt Initiativen gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass, z.B. die Initiative "Brothers Keepers" oder "Rock gegen Rechts". In Interviews hat er sich mehrfach gegen Antisemitismus ausgesprochen (Interview mit dem SWR, Anlage K 12; Interview mit dem Stern vom 12.03.2015, Anlage K 14).

2. Die Beklagte hielt am 05.07.2017 in S...(Ort) als Fachreferentin der Amadeu-Antonio Stiftung einen Vortrag zum Thema "Reichsbürger - Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik". Nach dem Vortrag kam es zu einer Diskussion zwischen der Beklagten und dem Publikum. Auf eine Nachfrage aus dem Publikum, wie die Beklagte den Kläger einstufe, sagte die Beklagte: "Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar".

3. Mit anwaltlichem Schreiben vom 20.07.2017 mahnte der Kläger die Beklagte ab (Anlage K 5).

4. Das Landgericht Regensburg erließ am 07.08.2017 eine einstweilige Verfügung, in der dem Beklagten untersagt wurde, wörtlich oder sinngemäß die streitgegenständliche Behauptung aufzustellen und/oder zu verbreiten (Az. 62 O 1240/17). Mit anwaltlichem Schreiben vom 07.09.2017 forderte der Kläger die Beklagte auf, diese einstweilige Verfügung als endgültige Regelung anzuerkennen (Anlage K 9).

II. 1. Im nunmehr rechtshängigen Hauptsacheverfahren hörte das Landgericht Regensburg im Termin vom 26.06.2018 die Parteien informatorisch an.

Die Beklagte führte u.a. aus, dass sie im Rahmen des von ihr zum Thema "Reichsbürger" gehaltenen Vortrags vom 05.07.2017 ihre Auffassung von "Antisemitismus" hergeleitet habe. Da sie vom Publikum um eine Einschätzung zum Kläger gebeten worden sei, habe sie ihre Einschätzung abgegeben, das Thema aber nicht weiter vertieft. Unter Antisemitismus verstehe sie eine Form von ideologischer Verschwörungstheorie, wonach die Geschicke der Welt von einer kleinen Gruppe gelenkt werden. Die Formen der Weltverschwörung, die in den streitgegenständlichen Liedern des Klägers angesprochen würden, passten zu ihrem Verständnis von Antisemitismus. Der Kläger verwende Begriffe und Chiffren, die sich als Stellvertreterbegriffe verstehen ließen und in die Artikel der Welterklärung im Sinne einer Verschwörungstheorie passten.

Der Kläger erklärte u.a., dass er kein Antisemit in dem Sinne, wie er es verstehe, sei. Er verstehe unter Antisemitismus, dass Menschen im Hinblick auf ihren Glauben und ihre semitische Herkunft aktiv diffamiert und verunglimpft würden. Bei dem Lied "Raus aus dem Reichstag" habe er mit der Verwendung des Begriffes "Totschild" den Ei...

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