Entscheidungsstichwort (Thema)
Unbedingte Berufung. Berufungsschrift. Erfüllung gesetzlicher Anforderungen. Begleitumstände
Leitsatz (amtlich)
Wenn die gesetzlichen Anforderungen an eine Berufungsschrift erfüllt sind, kommt die Deutung, daß der Schriftsatz nicht als unbedingte Berufung bestimmt war, nur dann in Betracht, wenn sich dies aus den Begleitumständen mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit ergibt (im Anschluß an BGH, Beschlüsse vom 31. Mai 1995 – VIII ZR 267/94 – NJW 1995, 2563; vom 10. Januar 1990 – XII ZB 134/89 – FamRZ 1990, 995; vom 16. Dezember 1987 – IVb ZB 161/87 – NJW 1988, 2046).
Normenkette
ZPO § 518 Fassung: 1950-09-12
Verfahrensgang
OLG Stuttgart |
LG Heilbronn |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Beschluß des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. Oktober 2001 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 18.596,20 EUR
Gründe
I.
Die Beklagte ist mit Urteil des Landgerichts Heilbronn vom 22. Dezember 2000, ihren damaligen Prozeßbevollmächtigten am 10. Januar 2001 zugestellt, verurteilt worden, an den Kläger 36.371 DM nebst Zinsen zu bezahlen. Ihre derzeitigen Prozeßbevollmächtigten haben mit Fax vom 9. Februar 2001, 15.48 Uhr, einen Schriftsatz beim Oberlandesgericht eingereicht, der mit „Berufung” überschrieben und unterzeichnet ist; in diesem Schriftsatz ist ausgeführt, es werde namens der Beklagten gegen das unter Angabe des Aktenzeichens, des Verkündungsdatums und des Zustellungszeitpunktes näher bezeichnete Urteil des Landgerichts Heilbronn Berufung eingelegt u.a. mit den angekündigten Anträgen, das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen. Zur Begründung dieser Anträge enthält der Schriftsatz nähere Ausführungen. Mit weiterem Fax vom selben Tage, beim Oberlandesgericht eingegangen um 15.53 Uhr, haben die Prozeßbevollmächtigten der Beklagten Antrag auf Prozeßkostenhilfe gestellt und u.a. ausgeführt: „Die Beklagte beabsichtigt, gegen das (näher bezeichnete) Urteil des Landgerichts Heilbronn Berufung einzulegen, sieht sich aber nicht in der Lage, die Kosten für das Rechtsmittelverfahren aus eigenen Mitteln aufzubringen. Aus diesem Grund wird beantragt, der Beklagten Prozeßkostenhilfe für den zweiten Rechtszug zu bewilligen und ihr den Unterzeichnenden als Prozeßbevollmächtigten beizuordnen” … „Die hinreichende Erfolgsaussicht ergibt sich aus dem anliegenden Entwurf der Berufungsbegründung. Die Beklagte beabsichtigt nach Entscheidung des Senats über die Prozeßkostenhilfe einen Antrag auf Wiedereinsetzung zu stellen”. Der erwähnte Entwurf der Berufungsbegründung war diesem Fax ebenso wenig beigefügt wie eine ebenfalls erwähnte beglaubigte Abschrift des landgerichtlichen Urteils. Der am 16. Februar 2001 beim Berufungsgericht eingegangene Originalschriftsatz wies als Anlage eine unbeglaubigte Kopie des Urteils auf. Am selben Tag ging beim Oberlandesgericht ein ebenfalls unterzeichneter, mit dem Fax vom 9. Februar 2001, 15.48 Uhr, übereinstimmender Schriftsatz ein, der aber über der als Absender aufgestempelten Kanzleianschrift der Beklagtenvertreter mit „Entwurf” gestempelt ist.
In der Folgezeit wechselten die Parteien über ihre Anwälte Schriftsätze zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Prozeßkostenhilfe auf Seiten der Beklagten.
Mit Beschluß vom 15. Juni 2001 bewilligte das Berufungsgericht der Beklagten Prozeßkostenhilfe „für den zweiten Rechtszug”. Der Beschluß ist den Prozeßbevollmächtigten am 21. Juni 2001 zugestellt worden.
Am 24. September 2001 wies der Berichterstatter des Berufungsgerichts „nach Vorberatung im Senat” die Prozeßbevollmächtigten der Beklagten telefonisch darauf hin, daß bisher eine Berufung nicht eingelegt sei. Hierauf stellte die Beklagte mit Fax vom 4. Oktober 2001 Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und legte vorsorglich nochmals unter Beifügung des mit „Berufung” überschriebenen Schriftsatzes vom 9. Februar 2001, 15.48 Uhr, Berufung ein.
Mit Beschluß vom 26. Oktober 2001 hat das Berufungsgericht die Berufung und den Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten als unzulässig verworfen. Die Berufung sei erst am 8. Oktober 2001 und damit verspätet eingelegt worden. Der am 9. Februar 2001 eingegangene Berufungsschriftsatz weise zwar keinen Stempel mit dem Hinweis „Entwurf” auf. Aus dem nur wenig später eingegangenen Fax ergebe sich jedoch, daß zunächst nur die Absicht der Berufungseinlegung bestanden habe. Die Berufung habe erst dann eingelegt werden sollen, wenn Prozeßkostenhilfe bewilligt worden sei; für diesen Fall sei ausdrücklich ein Antrag auf Wiedereinsetzung angekündigt worden. Dadurch sei der fristgerecht eingegangene und die Förmlichkeiten wahrende Berufungsschriftsatz der Beklagten zulässigerweise mit einem Prozeßkostenhilfegesuch verbunden worden und nicht als unbedingte Berufung bestimmt. Der Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten sei nicht fristgerecht eingegangen. Die Frist sei schuldhaft versäumt worden.
Gegen diesen, ihren Prozeßbevollmächtigten am 31. Oktober 2001 zugestellten Beschluß wendet sich die Beklagte mit ihrer am 14. November 2001 beim Berufungsgericht eingelegten sofortigen Beschwerde, die sie nicht näher begründet hat.
II.
Die nach §§ 519 b, 547 ZPO a.F. statthafte und nach §§ 569, 577 Abs. 2 ZPO a.F. form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Beklagte hat wirksam Berufung eingelegt und die Berufungsfrist nicht versäumt.
1. Ob eine Berufung eingelegt ist, ist im Wege der Auslegung der Berufungsschrift und der sonst vorliegenden Unterlagen zu entscheiden. Dabei sind – wie auch sonst bei der Auslegung von Prozeßerklärungen – alle Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen, die dem Gericht bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist bekannt geworden sind und dem Rechtsmittelgegner zugänglich waren. Die Auslegung von Prozeßerklärungen, die auch der Senat als Revisionsgericht selbst vornehmen kann (st. Rspr., vgl. Senatsurteil vom 18. Juni 1996 – VI ZR 325/95 – NJW-RR 1996, 1210, 1211; BGHZ 4, 328, 334), hat den Willen des Erklärenden zu beachten, wie er den äußerlich in Erscheinung getretenen Umständen üblicherweise zu entnehmen ist (vgl. Senatsurteil vom 15. Dezember 1998 – VI ZR 316/97 – VersR 1999, 900 m.w.N.). Bei Beachtung dieser Grundsätze hat die Beklagte wirksam Berufung eingelegt.
Das Fax vom 9. Februar 2001, 15.48 Uhr, ließ – für sich genommen – eindeutig und zweifelsfrei die Absicht erkennen, das erstinstanzliche Urteil einer Nachprüfung durch die höhere Instanz zu unterstellen. Ferner waren die formellen Voraussetzungen einer Berufungsschrift gewahrt (§ 518 Abs. 1 ZPO a.F.). Davon geht auch das Berufungsgericht aus.
Wenn aber die gesetzlichen Anforderungen an eine Berufungsschrift erfüllt sind, kommt die Deutung, daß der Schriftsatz nicht als unbedingte Berufung bestimmt war, nur dann in Betracht, wenn sich dies aus den Begleitumständen mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit ergibt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. September 1999 – XII ZB 114/99 – NJW-RR 2000, 879; vom 31. Mai 1995 – VIII ZR 267/94 – NJW 1995, 2563, 2564; vom 10. Januar 1990 – XII ZB 134/89 – FamRZ 1990, 995; vom 16. Dezember 1987 – IVb ZB 161/87 – NJW 1988, 2046, 2047 – jeweils m.w.N.). Hier lassen die Begleitumstände nicht hinreichend deutlich erkennen, daß die Beklagte keine Berufung einlegen wollte.
Die Beklagte hat zwar in dem Schriftsatz vom selben Tage, 15.53 Uhr, ausdrücklich ausgeführt, sie beabsichtige, gegen das landgerichtliche Urteil Berufung einzulegen, reiche deshalb den „Entwurf” einer Berufungsbegründung ein (der diesem Fax nicht beigefügt war) und habe die Absicht, nach Entscheidung über Prozeßkostenhilfe einen Antrag auf Wiedereinsetzung zu stellen. Das Berufungsgericht durfte diese spätere Erklärung berücksichtigen, weil sie ebenfalls innerhalb der Berufungsfrist eingegangen war (vgl. BGH, Urteil vom 31. Mai 1995 – VIII ZR 267/97 – NJW 1995, 2563, 2564). Aus ihr ergab sich jedoch nicht hinreichend deutlich, daß mit dem früheren Schriftsatz entgegen dessen Bezeichnung keine Berufung eingelegt werden sollte. Es blieb vielmehr die Möglichkeit offen, daß der spätere Schriftsatz von 15.53 Uhr einen zusätzlich zur Berufung eingereichten Antrag auf Prozeßkostenhilfe enthielt und lediglich ohne die in Bezug genommenen Anlagen geblieben war. Unter diesen Umständen jedenfalls kann dem späteren Schriftsatz auch unter Berücksichtigung der finanziellen Interessen der Beklagten nicht mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit entnommen werden, daß die allen Erfordernissen eines Berufungsschriftsatzes genügende „Berufung” dennoch nicht als solche bestimmt sein sollte.
2. Eine Rücknahme der wirksam eingelegten Berufung ist nicht erfolgt; sie hätte klar und unzweideutig erklärt werden müssen (vgl. schon RG JW 1935, 2281, 2282; zur Rücknahme einer Beschwerde vgl. BGH, Beschluß vom 23. September 1987 – IVb ZB 59/86 – NJW-RR 1989, 195, 196); Anhaltspunkte dafür, daß das Berufungsverfahren endgültig nicht fortgesetzt werden sollte, sind nicht ersichtlich.
3. Hat die Beklagte hiernach die Berufungsfrist nicht versäumt, so bedarf sie keiner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, und die Frage ihres Verschuldens an einer Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist des § 234 Abs. 2 ZPO a.F. stellt sich nicht.
Unterschriften
Dr. Müller, Dr. Greiner, Wellner, Pauge, Stöhr
Fundstellen
Haufe-Index 706817 |
BB 2002, 542 |
NJW 2002, 1352 |
BGHR 2002, 481 |
FuR 2002, 266 |
Nachschlagewerk BGH |
EzFamR aktuell 2002, 136 |
MDR 2002, 775 |
SGb 2002, 383 |
VersR 2002, 1256 |
KammerForum 2002, 197 |