Ist Aufgeben im Beruf eine Option?
Vielleicht liegt es an meinem Alter / meiner Erfahrung. Oder vielleicht schaue und höre ich sensibler hin. Seit einigen Jahren treffe ich jedenfalls immer öfter auf Menschen, die beruflich aufgegeben haben. Das ist gerade darum so bemerkenswert, weil das brillante Leistungsträger sind. Was ist da los?
Ende der Karriere
Messerscharfer Verstand, höchstes Engagement, unendlicher Ideenreichtum und der daraus resultierende, berufliche Erfolg. Ich kenne einige von diesen Personen, schätze sie sehr, habe viel von ihnen gelernt und ja, nicht selten beneide ich sie.
Darum bin ich auch so erschüttert, wenn sie mir erzählen, dass sie beruflich nicht zwei Gänge zurückgeschaltet haben (was immer noch Höchstleistung wäre), sondern den Motor komplett abgestellt haben. Das Ende der Karriere als bewusste Entscheidung.
Familie, Gesundheit, Pflege der Eltern – die genannten Gründe sind nachvollziehbar. Aber es steckt mehr dahinter, denn diese Menschen können nicht aus ihrer Haut. Wenn nicht mehr für den Beruf, dann muss dieses Engagement doch für ein Hobby oder den Verein eingesetzt werden. Aber so gar nichts mehr? Komplett aufgegeben? Das will nicht in meinen Kopf. Auf mein Nachfragen kommen sie ins Erzählen.
Macht statt Kompetenz
Da ist der langjährig erfahrene Diplomingenieur im Fahrzeugbau, der davor warnt, dass die Zylinderköpfe nicht halten werden. Sein Chef sagt das Gegenteil. Der ist kein Ingenieur, aber Führungskraft. Die Dinger reißen beim Kunden. Millionenschaden. Reputation futsch.
Drei, vier Warnungen dieser Art später wird der Chef befördert und die Stelle ist frei. Der erfahrene Ingenieur darf sich anhören, dass er in der Organisation als Nörgler gilt, der alles schlecht redet und man so jemand nicht in Führung bringen will. Bei der externen Jobsuche gilt er als zu alt. Die 8 Jahre bis zur Rente warnt er nicht mehr. Aufgegeben.
Blind und taub
Wichtiges Projekt, so richtig mit Außenwirkung. Da muss jemand teures Externes ran. Oder einer der Günstlinge der obersten Behördenetage. Natürlich!
Das funktioniert meistens schlecht, fällt aber erst mal nicht auf. So lange, bis es fast zu spät ist. Irgendwoher - gerne von Kollegen anderer Abteilungen, manchmal aber auch von externen Partnern - kommt ein Hilferuf. Jetzt klotzen die Fachexperten ran. Weil so kann man das ja nicht lassen! Die Eigenmotivation, der Stolz und die Identifikation mit der Behörde sind dafür zu groß. Also folgen Nachtschichten auf Tagschichten. Wochenlang. Bis alles steht und klappt.
Das Lob für das erfolgreiche Projekt kassieren dann Personen, die wirklich auch gar nichts dafür können. Die werden befördert und kriegen das nächste Projekt. Die Geschichte wiederholt sich so regelmäßig.
Wie oft macht man das mit? Meine Bekannte hat es mehrere Jahre getan. Jetzt nicht mehr. Der Hilferuf kommt zwar noch, aber dann hört sie weg. Aufgegeben.
Das System hat immer Recht!
Mein Gesprächspartner wurde für viel Geld hierhin abgeworben. Seine Führungskraft ist schwierig. An den Haaren herbeigezogene Kritik mit viel Schreien. „Cholerisch“ ist noch nett formuliert.
Er hinterfragt sich selbst und arbeitet noch mehr, um (sich) zu beweisen, dass er es kann. Er wehrt sich, argumentiert, macht die Dinge schriftlich, spricht mit HR. Es nützt alles nichts. Kündigung wegen Schlechtleistung in der Probezeit. Depression.
Zu spät erfährt er, dass er der sechste Manager in 18 Monaten auf dieser Position ist und bisher am längsten durchgehalten hat. Das will mein Bekannter nicht auf sich sitzen lassen. Aber Mitarbeiter in der Probezeit haben hier nichts zu melden. Und Führungskräfte werden generell nicht kritisiert, weil sie einen maximal aufwendigen Auswahl- und Entwicklungsprozess hinter sich haben.
Jeder in der Organisation weiß, dass nicht mein Bekannter das Problem war. Jetzt etwas zu ändern, würde aber das ganze System in Frage stellen: Umgang mit neuen Mitarbeitern, Auswahl und Qualifikation von Führungskräften, Rolle von HR und Personalvertretung, Feedback- und Beurteilungssysteme. Das System wird stabil gehalten, der Mensch ist ersetzbar.
Mein Bekannter bewirbt sich nicht mehr für die erste Reihe. Eher für die zweite oder dritte. „Ich will bloß meine Ruhe haben“. Überqualifiziert. Aufgegeben.
Verbrannt
Klar hat der Chef unrecht. Aber das darf eine leitende Projektmanagerin doch nicht sagen! Und schon gar nicht offen eine andere Meinung haben! Plötzlich ist sie bei Meetings ausgeladen, wird von Informationen abgeschnitten und andere treffen ihre Entscheidungen.
Extern auf Jobsuche zu gehen, ist gerade schwierig. Sie versucht intern zu wechseln, gilt aber in der Behörde als maximal verbrannt. Niemand will hier Widerworte. Also nine-to-five. Aufgegeben.
Einen Vorwurf kann man ihnen nicht machen
Es geht mir in diesem Beitrag nicht um die, die sich durch mehr oder weniger „Minderleistung“ einen Lenz machen. Es geht mir um die Leistungsträger, die beruflich aufgeben, um sich zu schützen. Vor Mobbing, Depression oder Kündigung. Sie wollen oder können einfach nicht mehr. Es fehlt in ihren Organisationen nicht nur an Professionalität, sondern vor allem auch an Anstand.
Ohne Engagement gibt es keine Zukunft
Kein Interesse, keine Initiativen. Ideen, die nicht geäußert werden, Warnungen, die man für sich behält, Wissen, das man nicht weitergibt. Arbeiten nach Vorschrift. Das kommt öfter vor, als man denkt. Galllups Studien hinterlassen regelmäßig den Eindruck, dass da irgendetwas gewaltig schief läuft.
Diese Situation ist für keine Organisation tragbar. Mitten im digitalen Wandel steckend, sind diese doch gerade auf die Innovatoren angewiesen, um die notwendigen Veränderungen anzustoßen. Wie soll das gehen, wenn die Leistungsträger von gestern plötzlich ihr Engagement komplett einstellen?
Wir alle kennen die Beispiele, wenn die Fachexperten verstummen oder nicht gehört werden. Milliardenschaden bis hin zur Pleite. Und manchmal auch Menschenleben. Und natürlich spricht sich das rum und findet Nachahmer in der Organisation. Das nächste Employer Branding Projekt muss da gar nicht mehr designt werden, sondern ist gleich für die Tonne. Was also tun?
Leistung muss zählen
Schmeißt die ganzen Wischi-Waschi-Employer-Branding-Wir-Gefühl-Hochglanz-Broschüren weg und fangt endlich (wieder) an, auf Leistung und Erfahrung zu setzen! Hört den Experten zu! Transparent, objektiv, belegbar: Wer schiebt an, wer hatte die Idee, wer hat es gewuppt? Namen nennen und dann fördern! Quoten, Seilschaften oder ein fehlender Abschluss sind dafür völlig irrelevant.
Und auch anders herum gilt es, konsequent zu sein. Wer ständig Mist baut, darf nicht auch noch befördert werden. Hier entsprechend zu reagieren, ist immens wichtig für die Moral der gesamten Belegschaft. Das zeigen Mitarbeiterbefragungen deutlich. Wer wiederholt als schlechte Führungskraft auffällt, wird nicht geduldet. Überhaupt erscheint mir Führung auf Zeit für Projekte grundsätzlich überlegenswert.
Die Lust am Machen
Menschen können wieder neu motiviert werden. Zum Beispiel durch eine neue Aufgabe als Herausforderung in einem neuen Umfeld.
Und wenn das nicht klappt, dann seid so wertschätzend und versüßt den Abschied, der ein neuer Anfang sein kann. Denn die gute Nachricht ist, dass einige der hier skizzierten Geschichten ein gutes Ende gefunden haben. Zwei wurden von Headhuntern abgeworben, die am Alter vorbei den Menschen sehen. Ein anderer ist in einem ganz neuen Beruf mit Freude und Engagement tätig, den er ohne sein Aufgeben vorher vermutlich nie entdeckt hätte.
Ob nun Behörden oder Unternehmen, verloren haben in jedem der Fälle die alten Organisationen.
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