Verfassungsbeschwerden gegen Neuregelung zur Tarifkollision gescheitert
Nach den Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes (TVG) wird im Fall der Kollision mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb grundsätzlich der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft verdrängt, die weniger Mitglieder im Betrieb organisiert. Mit Urteil vom 11. Juli 2017 hat das Bundesverfassungsgericht die Kollisionsregelung insoweit für verfassungswidrig gehalten, als Vorkehrungen dagegen fehlten, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen in einem solchen Fall einseitig vernachlässigt werden.
Verletzung der Koalitionsfreiheit durch § 4a TVG?
Der Gesetzgeber verabschiedete daraufhin zum 1. Januar 2019 die neue Regelung des § 4 a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG, gegen die sich die Rechtssatzverfassungsbeschwerden wenden. Nach der Neuregelung sind neben dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft in einem Betrieb auch die Rechtsnormen des Minderheitstarifvertrags anwendbar, wenn beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die Interessen von Arbeitsnehmergruppen, die von dem Minderheitstarifvertrag erfasst werden, nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt sind. Die drei Beschwerdeführenden sind zwei Gewerkschaften und ein Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. Sie betrachten sich selbst als Spartengewerkschaften und rügen insbesondere eine Verletzung der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG.
BVerfG: Bisher keine Verdrängung der Minderheitsgewerkschaften
Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bestehen Zweifel, ob die Beschwerdeführenden in einer den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes genügenden Weise dargelegt haben, dass sie durch die angegriffene gesetzliche Regelung unmittelbar betroffen sind. Bislang sind weder von ihnen geschlossene Tarifverträge unanwendbar geworden noch wurde ihr gewerkschaftliches Handeln unmöglich; vielmehr haben sie die Verdrängungswirkung von § 4a TVG abbedungen. Es sei auch zumindest fraglich, ob die neue Regelung tatsächlich geeignet ist, Gewerkschaften, die in einem Tarifbereich voraussichtlich weniger Mitglieder organisieren als andere, aus dem Tarifgeschehen zu verdrängen. Die angegriffene Regelung in § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG führt, anders als die vorhergehende, vom Bundesverfassungsgericht im Urteil zur Tarifeinheit vom 11. Juli 2017 zum Teil beanstandete Regelung gerade dazu, dass der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft nicht immer und voraussetzungslos verdrängt wird. Das kann nur geschehen, wenn und soweit die Interessen der Arbeitnehmergruppe der Minderheitsgewerkschaft beim Zustandekommen des von der Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrags ernsthaft und wirksam berücksichtigt worden sind. Wo es daran fehlt, wird ihr Tarifvertrag auch nicht verdrängt.
Verletzung von Rechten nicht ausreichend dargelegt
Das Bundesverfassungsgericht bezweifelt auch, ob die Verfassungsbeschwerden hinsichtlich der Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten hinreichend substantiiert sind. Die allgemeine Rüge, sie seien in ihrem Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt, weil sie zwingend Interessen von Nicht-Mitgliedern zu berücksichtigen hätten, genügt insofern nicht. Die Beschwerdeführenden legten nicht dar, inwieweit tatsächlich ein Zwang bewirkt wird. Wenn sie relevante Interessen nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigen, sind nach § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG lediglich auch die Rechtsnormen des Minderheitstarifvertrages anwendbar. Inwieweit dies dazu zwingt, für andere mit zu verhandeln, erschließt sich für das Bundesverfassungsgericht nicht. Es sei nicht dargelegt, inwiefern eine solidarische Erwartung, die über die Interessenvertretung der Mitglieder hinausgeht, Gewerkschaften in ihren Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt.
Gewerkschaften müssen erst einmal die Fachgerichte anrufen
Abschließend stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Beschwerdeführenden jedenfalls zunächst den Rechtsweg zu den Fachgerichten beschreiten müssen.
Hier wurden die Fachgerichte vorher nicht befasst und es liegt kein Ausnahmefall vor, der die Pflicht zu ihrer Anrufung ausnahmsweise entfallen lassen würde. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass es von vornherein sinn- und aussichtslos wäre, zunächst den Rechtsweg zu beschreiten. Die Rechtslage unterscheidet sich mit der Neuregelung von der Situation, die der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Tarifeinheitsgesetz zugrunde lag. Hier ist nicht dargelegt, dass die Beschwerdeführenden überhaupt keine Tarifverträge schließen und daher auch keine fachgerichtliche Entscheidung über den im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag herbeiführen könnten; sie haben die Verdrängungswirkung von § 4a TVG vielmehr abbedungen. Verzichten sie damit aber selbst auf eine Möglichkeit, die Fachgerichte anzurufen, lässt das die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht entfallen.
Fachgerichte müssen Verdrängung des Minderheitstarifvertrags prüfen
Werden die Fachgerichte angerufen, müssten diese klären, ob beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die gesetzlichen Anforderungen erfüllt worden sind, die zu einer Verdrängung von Tarifverträgen führen können. Das wäre jeweils konkret und unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Wertungen des Art. 9 Abs. 3 GG zu klären. Dabei kann sich der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft gerade nicht auf eine „Richtigkeitsvermutung“ zugunsten aller unter seinen Geltungsbereich fallenden Beschäftigten stützen, sondern die Gerichte haben zu entscheiden, ob alle insoweit relevanten Interessen berücksichtigt worden sind. Inwiefern die hier angegriffene Neuregelung dann auf praktische Schwierigkeiten stößt, muss sich zunächst „vor Ort“ zeigen, bevor das Bundesverfassungsgerichts die Frage beantworten kann, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19.5.2020, 1 BvR 672/19, 1 BvR 2832/19, 1 BvR 797/19)
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