Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitbestimmung bei Überstunden
Leitsatz (redaktionell)
Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs 1 Nr 3 BetrVG mitzubestimmen, wenn der Arbeitgeber Überstunden anordnen will, um die mit Dritten vereinbarten Leistungen termingerecht erbringen zu können (im Anschluß an BAG Beschluß vom 10. Juni 1986 - 1 ABR 61/84 = DB 1986, 2391).
Normenkette
ZPO § 561 Abs. 1, § 256 Abs. 1, § 253 Abs. 2 Nr. 2; BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
LAG Schleswig-Holstein (Entscheidung vom 04.12.1984; Aktenzeichen 13 TaBV 4/84) |
ArbG Hannover (Entscheidung vom 27.04.1984; Aktenzeichen 10 BV 6/84) |
Gründe
A. Die Beteiligten streiten um ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats (Antragstellers) bei der Anordnung von Mehrarbeit.
Die Antragsgegnerin betreibt ein Rechenzentrum, das als Dienstleistungsunternehmen die Datenverarbeitung für Genossenschaftsbanken, Warengenossenschaften und andere Kunden durchführt. In ihren Betriebsstätten L, O und H beschäftigt sie etwa 400 Mitarbeiter, davon ca. 200 Mitarbeiter in der Betriebsstätte L.
In L sind im Entwicklungsbereich (Organisation und Programmierung) rd. 70 Mitarbeiter beschäftigt. Dazu gehören die Gruppen "Dezentrale Datenverarbeitung" und "Dialogverkehr" mit 14 Mitarbeitern, in denen Programme entwickelt und geändert werden (Release). Die Programme werden jeweils zu einem bestimmten Termin freigegeben, in der Regel zweimal im Jahr.
Im Dezember 1983 wurden in der Gruppe "Dezentrale Datenverarbeitung" Mehrarbeiten durchgeführt, die der termingerechten Fertigstellung des Release dienten. Insbesondere wurden Mehrarbeiten zur Fertigstellung der Programme für den Geldausgabeautomaten geleistet. Diese Programme sollten Anfang Januar 1984 bei den Kunden eingesetzt werden. Im Januar 1984 wurden in den Gruppen "Dezentrale Datenverarbeitung" und "Dialogverkehr" weitere Mehrarbeiten zur Fehlersuche und Fehlerbehebung für die freigegebenen Programme durchgeführt. Auch in den Monaten Februar, März und April 1984 leisteten im Zusammenhang mit Release-Terminen und der Fehlerbehebung verschiedene Mitarbeiter Mehrarbeit. Der Betriebsrat wurde bei der Anordnung dieser Mehrarbeit nicht beteiligt.
Der Betriebsrat hat die Auffassung vertreten, alle Mehrarbeiten, die einen betrieblichen Anlaß hätten, seien mitbestimmungspflichtig. Vor einem Release-Termin komme es regelmäßig zu zeitlichen Engpässen, die dazu führten, daß Mehrarbeit geleistet werden müsse, um den Kunden zugesagte Termine einzuhalten. Derartige Engpässe werde es auch in Zukunft immer wieder geben, weil es nicht möglich sei, die Entwicklungsarbeiten so exakt zu planen, daß keine Engpässe mehr auftreten könnten. Es sei vorhersehbar, daß bei Release-Terminen regelmäßig ein zusätzlicher Arbeitskräftebedarf auftrete. Nach Einsatz eines Release bei den Kunden träten immer wieder Fehler auf, die gesucht und behoben werden müßten. Es sei praktisch unmöglich, ein Release freizugeben, das völlig fehlerfrei sei. Bei der Fehlersuche und -behebung träten oft zeitliche Engpässe auf, weil die meisten Fehler schnell behoben werden müßten. Dadurch komme es regelmäßig und vorhersehbar zu Mehrarbeiten. In beiden Fallgestaltungen ergebe sich ein generelles Regelungsproblem, bei dem zu entscheiden sei, ob die Mehrarbeit erforderlich sei, welcher Mitarbeiter die Mehrarbeit zu leisten habe, ob Einstellungen erforderlich seien, wie die Mehrarbeit verteilt werde, wann sie durchgeführt werden solle und ob die Mitarbeiter sich gegebenenfalls abwechseln sollten. Eine Fehlerbehebung könne vom Gruppenleiter, dem zuständigen Programmierer oder einem anderen Mitarbeiter durchgeführt werden, so daß die Mehrarbeit auch nicht von einer Person abhänge.
Der Betriebsrat hat beantragt
festzustellen, daß der Betriebsrat bei
Mehrarbeit mitzubestimmen habe, die in
den Gruppen Dezentrale Datenverarbeitung
(Gruppenleiter Herr Peter B ) und
Dialogverkehr (Gruppenleiter Herr Karl
S ) der Abteilung "Anwendungsent-
wicklung Banken 0D" geleistet würden,
soweit diese Mehrarbeiten
a) der termingerechten Fertigstellung
eines Release dienen
oder
b) der Fehlersuche und Fehlerbehebung
im Zusammenhang mit der Freigabe ei-
nes Release dienen.
Der Arbeitgeber hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, nicht alle Mehrarbeiten, die im Zusammenhang mit Releasefreigaben stünden, seien mitbestimmungspflichtig. Der Feststellungsantrag sei so weit gefaßt, daß er gegenüber den von ihr anerkannten Mitbestimmungssachverhalten Fallgestaltungen einschließe, über die mangels Vorhersehbarkeit noch gar kein Streit herrschen könne. Seit Beginn des Jahres 1984 hätten sich die Arbeitsbedingungen durch die Einführung einer Pufferzeit entscheidend geändert, so daß es keine regelmäßige vorhersehbare Mehrarbeit gebe. In der Pufferzeit könnten auftretende Fehler bereinigt werden. Auch die Planung sei so verbessert worden, daß mit einer Fehlerhäufung zum Release-Termin nicht mehr zu rechnen sei. Im Jahre 1984 seien sämtliche Releasefreigaben bis zum 3. August 1984 bis auf einen Fall ohne Überstunden geregelt worden. Schließlich könne nur der Mitarbeiter aufgetretene Fehler schnell beheben, der das Programm erstellt habe.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag zurückgewiesen. Auf die Beschwerde des Betriebsrats hat das Landesarbeitsgericht dem Antrag stattgegeben. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt der Arbeitgeber die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
B. Die Rechtsbeschwerde des Arbeitgebers ist nicht begründet.
I. Der Antrag des Betriebsrats ist zulässig. Davon ist das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgegangen. Zu den von ihm erörterten Fragen der Zulässigkeit dieses Antrags hat der Senat inzwischen mehrfach Stellung genommen.
1. Ein Antrag auf Feststellung von Mitbestimmungsrechten braucht sich nicht auf eine konkrete Maßnahme des Arbeitgebers, einen Einzelfall, zu beziehen. Der Betriebsrat kann die Frage, ob bei den in § 87 Abs. 1 BetrVG genannten Angelegenheiten - oder auch bei personellen Einzelmaßnahmen im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG - ein Mitbestimmungsrecht besteht, auch losgelöst von einem Einzelfall entscheiden lassen. An der Frage, ob der Betriebsrat bei einer konkreten Maßnahme zu beteiligen ist, wird, wenn die Maßnahme bereits abgeschlossen war, kein Interesse mehr bestehen. Deshalb ist der allgemeine, von einer abgeschlossenen Maßnahme losgelöste Feststellungsantrag möglich und notwendig (vgl. BAG 39, 259 = AP Nr. 5 zu § 83 ArbGG 1979 und Beschluß des Senats vom 10. April 1984 - 1 ABR 73/82 - AP Nr. 3 zu § 81 ArbGG 1979 und von da an ständige Rechtsprechung). Dabei ist nicht erforderlich, daß dieser allgemeine Feststellungsantrag neben einem Antrag gestellt wird, der sich auf eine konkrete Maßnahme bezieht. Er kann auch für sich allein gestellt werden, wenn die konkrete Maßnahme abgeschlossen ist und an der Entscheidung der Frage, ob der Betriebsrat bei dieser Maßnahme zu beteiligen war, kein Interesse mehr besteht (Beschluß des Senats vom 18. Februar 1986 - 1 ABR 27/84 - zu B I 2 b der Gründe, zur Veröffentlichung vorgesehen). Das ist im vorliegenden Fall geschehen.
2. Dem Landesarbeitsgericht ist auch darin zuzustimmen, daß der Antrag des Betriebsrats bestimmt genug ist.
Ein Antrag im Beschlußverfahren muß ebenso bestimmt sein wie eine Klageschrift im Urteilsverfahren. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZP0 ist auf das Beschlußverfahren und die in ihm gestellten Anträge entsprechend anwendbar (BAG 44, 226, 232 f. = AP Nr. 11 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit, zu B der Gründe; Beschluß vom 22. Oktober 1985 - 1 ABR 38/83 - zu B I 2 der Gründe, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Bei einem Streit über bestehende Mitbestimmungsrechte muß derjenige, der das Bestehen oder Nichtbestehen des Mitbestimmungsrechts festgestellt wissen will, diejenige Maßnahme des Arbeitgebers oder denjenigen betrieblichen Vorgang, für die bzw. für den er ein Mitbestimmungsrecht in Anspruch nimmt oder leugnet, so genau bezeichnen, daß mit einer Entscheidung über den Antrag feststeht, für welche Maßnahmen oder Vorgänge das Mitbestimmungsrecht bejaht oder verneint worden ist (BAG Beschluß vom 16. August 1983 - 1 ABR 11/82 - AP Nr. 2 zu § 81 ArbGG 1979; BAG 46, 367, 372 = AP Nr. 9 zu § 87 BetrVG 1972 Überwachung, zu B I 1 der Gründe; Beschluß vom 18. Februar 1986, aa0, zu B I 2 c der Gründe).
Das ist im vorliegenden Fall ausreichend geschehen. Der Betriebsrat hat die Fallgestaltungen beschrieben, für die er ein Mitbestimmungsrecht in Anspruch nimmt. Es handelt sich um Mehrarbeiten in zwei Gruppen, die bei zwei Fallgestaltungen (termingerechte Fertigstellung eines Release und Fehlerbehebung im Zusammenhang mit der Freigabe eines Release) erforderlich werden. Aus betrieblichen Gründen ergibt sich in beiden Gruppen bei den beiden genannten Anlässen seit Jahren ein zusätzlicher Arbeitsbedarf, der innerhalb der betriebsüblichen Arbeitszeit mit den vorhandenen Arbeitskräften nicht bewältigt werden kann. Dabei ist unter Mehrarbeit im Sinne des Antrags die Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit in Form von Überstunden zu verstehen.
Auf die Entscheidung des Senats vom 8. November 1983 (BAG 44, 226 = AP Nr. 11 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit) kann sich der Arbeitgeber nicht berufen. Der Antrag, über den hier zu entscheiden ist, ist mit dem weitergehenden Antrag jenes Verfahrens nicht zu vergleichen. Im übrigen hat der Senat bereits dargelegt, daß der Antrag in jenem Verfahren nicht als unzulässig, sondern als unbegründet hätte abgewiesen werden müssen (Beschluß vom 10. Juni 1986 - 1 ABR 61/84 - zu B II 2 der Gründe, zur Veröffentlichung vorgesehen).
3. Für den Antrag besteht auch ein Rechtsschutzinteresse (§ 256 Abs. 1 ZP0 entsprechend). Der Arbeitgeber nimmt nach wie vor das Recht in Anspruch, bei den im Antrag wiedergegebenen Fallgestaltungen in den beiden Gruppen ohne Zustimmung des Betriebsrats Mehrarbeit durchführen zu lassen. Auch in Zukunft ist mit Mehrarbeit aus den im Antrag genannten Anlässen zu rechnen. Organisatorische Maßnahmen des Arbeitgebers haben nicht dazu geführt, daß keine Mehrarbeit aus den genannten Anlässen mehr anfällt. Unstreitig ist Mehrarbeit in den Monaten Februar bis April 1984, also nach der Umorganisation, angefallen. Insoweit ist der Sachverhalt vom Landesarbeitsgericht für den Senat bindend (§ 561 Abs. 1 ZP0) festgestellt worden.
II. Der Antrag des Betriebsrats ist auch begründet.
Bei den Anordnungen des Arbeitgebers, Überstunden zu leisten, handelt es sich um eine Angelegenheit, die nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegt.
1. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Anordnung von Mehrarbeit oder Überstunden setzt einen kollektiven Tatbestand voraus. Es greift nicht ein bei individuellen Maßnahmen ohne kollektiven Bezug (ständige Rechtsprechung des BAG, vgl. Beschluß vom 18. November 1980 - 1 ABR 87/78 - AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit, zu 1 b der Gründe; Beschluß vom 2. März 1982, BAG 38, 96 = AP Nr. 6 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit; Beschluß vom 8. Juni 1982 - 1 ABR 56/80 - AP Nr. 7 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit; Beschluß vom 21. Dezember 1982, BAG 41, 200 = AP Nr. 9 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit; Beschluß vom 22. Februar 1983, BAG 42, 11 = AP Nr. 2 zu § 23 BetrVG 1972; Beschluß vom 8. November 1983, BAG 44, 226 = AP Nr. 11 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit). Dabei liegt ein kollektiver Tatbestand immer dann vor, wenn sich eine Regelungsfrage stellt, die kollektive Interessen der Arbeitnehmer des Betriebes berührt. So ist bei einem zusätzlichen Arbeitsbedarf immer die Frage zu regeln, ob und in welchem Umfang zur Abdeckung dieses Arbeitsbedarfs Überstunden geleistet werden sollen oder ob die Neueinstellung eines Arbeitnehmers zweckmäßiger wäre. Weiter ist zu entscheiden, wann und von wem die Überstunden geleistet werden sollen. Diese Regelungsprobleme bestehen unabhängig von der Person und den individuellen Wünschen eines einzelnen Arbeitnehmers. Auf die Zahl der Arbeitnehmer, für die Mehrarbeit oder Überstunden angeordnet werden, kommt es deshalb nicht an. Die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer ist allenfalls ein Indiz dafür, daß ein kollektiver Tatbestand vorliegt.
Auf der anderen Seite endet ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats dort, wo es um die Gestaltung konkreter Arbeitsverhältnisse geht und wo besondere, nur den einzelnen Arbeitnehmer betreffende Umstände die Maßnahme veranlassen oder inhaltlich bestimmen.
2. Danach besteht im vorliegenden Fall ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats. Aus den genannten Anlässen tritt aus betrieblichen Gründen ein zusätzlicher Arbeitsbedarf auf, der in der betriebsüblichen Arbeitszeit mit den vorhandenen Arbeitnehmern nicht bewältigt werden kann. Dieses Bedürfnis muß entweder vorausschauend durch Aufstellen allgemeiner Grundsätze und Verfahrensregeln oder, wenn es dazu nicht kommt, notfalls im Einzelfall geregelt werden. Arbeitgeber und Betriebsrat müssen gemeinsam festlegen, wie dem zusätzlichen Arbeitsanfall begegnet werden soll (vgl. Beschluß des Senats vom 10. Juni 1986 - 1 ABR 61/84 -, zu B III 2 b der Gründe). Der Betriebsrat hat zu Recht auf die verschiedenen Regelungsmöglichkeiten hingewiesen.
Diese Gestaltungsmöglichkeiten sind nicht dadurch eingeschränkt, daß die anfallende Mehrarbeit nur durch den das Programm erstellenden Mitarbeiter erledigt werden kann. Darauf hat das Landesarbeitsgericht zu Recht hingewiesen. Der Arbeitgeber hat eingeräumt, daß auch der Gruppenleiter in den genannten Fällen zu den erforderlichen Mehrarbeiten eingesetzt wurde.
Dr. Kissel Dr. Heither Matthes
H. Blanke Dr. Münzer
Fundstellen
Haufe-Index 436752 |
BB 1987, 544-545 (LT) |
DB 1987, 336-337 (LT) |
AuB 1987, 196-196 (T) |
BetrR 1988, Nr 2, 10-12 (LT1) |
CR 1987, 860-681 (ST) |
JR 1987, 220 |
NZA 1987, 207-208 (LT) |
RdA 1987, 64 |
ZTR 1987, 62-62 (LT) |
AP § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit (LT), Nr 21 |
AR-Blattei, Betriebsverfassung XIVB Entsch 98 (LT) |
AR-Blattei, ES 530.14.2 Nr 98 (LT) |
EzA § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit, Nr 21 (LT1) |
iur 1987, 157-159 (LT) |