Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung aus betrieblichen Gründen bei tariflicher Beschränkung des Kündigungsrechts auf Kündigungen aus wichtigem Grund
Normenkette
BGB § 626
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 14. November 1994 – 17 Sa 61/94 – aufgehoben.
2. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 1. März 1994 – 61 Ca 7953/93 – teilweise abgeändert.
3. Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 26. Februar 1993 auch nicht zum 30. September 1993 aufgelöst worden ist.
4. Der Kläger trägt 1/4 der Kosten des ersten Rechtszugs, die übrigen Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer aus betrieblichen Gründen ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung.
Der am 14. Mai 1935 geborene Kläger ist verheiratet und einem Kind zum Unterhalt verpflichtet. Er hat das erste Staatsexamen für das Lehramt in den Fächern Mathematik und Biologie abgelegt und ist seit 1972 Lehrbeauftragter an der Technischen Fachhochschule Berlin.
Die Beklagte beschäftigte den Kläger seit dem 15. April 1971 zunächst als Entwicklungsingenieur, Fachlehrer und technischen Sachbearbeiter. Seit Oktober 1979 war der Kläger als Bibliothekssachbearbeiter in der Zentralbibliothek Berlin, die zum Betrieb H. gehörte, tätig. Seit Mai 1980 war der Kläger der Leiter der Bibliothek. Seine monatliche Bruttovergütung betrug zuletzt 6.700,– DM. Aufgrund beidseitiger Verbands Zugehörigkeit sind die Parteien an den Manteltarifvertrag für die Angestellten in der Berliner Metallindustrie vom 10. Mai 1990 (im folgenden MTV) gebunden, dessen Nr. 9.6 wie folgt lautet:
„Nach mindestens zehnjähriger ununterbrochener Unternehmens- oder Betriebszugehörigkeit – gerechnet ab dem vollendeten 45, Lebensjahr – kann das Beschäftigungsverhältnis durch den Arbeitgeber nur aus wichtigem Grund gekündigt werden. Dies gilt nicht nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit sowie nach Erreichung der Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies gilt ferner nicht für eine Änderungskündigung gegenüber Beziehern von Rente wegen Berufsunfähigkeit, auch wenn diese Änderungskündigung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt.
Bei Betriebsstillegung ist die Kündigung zum Zeitpunkt der endgültigen Betriebsschließung zulässig.”
Die Beklagte schloß am 30. September 1991 die Zentralbibliothek Berlin, deren Aufgaben von der Zentralbibliothek Frankfurt übernommen wurden. Sie setzte den Kläger im Hinblick auf den tarifvertraglichen Kündigungsschutz ab dem 1. Februar 1992 im Aus- und Weiterbildungszentrum Berlin außerhalb des bestehenden Stellenplans ein. Dem Kläger wurde die Leitung von eigens für ihn eingerichteten Unterrichtsveranstaltungen übertragen und die Einrichtung weiterer Unterrichtsveranstaltungen wurde mit ihm erörtert, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich ein neues Aufgabengebiet zu erarbeiten. Der Einsatz des Klägers im Aus- und Weiterbildungszentrum Berlin wurde von der Beklagten im September 1992 beendet, nachdem der Leiter des Zentrums den Kläger als für eine dortige Tätigkeit nicht geeignet beurteilt hatte. Ein von der Beklagten durchgeführtes sogenanntes Personal-Clearing hatte ergeben, daß für den Kläger keine sonstige Weiterbeschäftigungsmöglichkeit bestand.
Die Beklagte hörte den Betriebsrat der Betriebsstätte H. mit Schreiben vom 22. September 1992 zu einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses an. Sie kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 28. September 1992 zum 31. März 1993. Das Arbeitsgericht Berlin gab der hiergegen erhobenen Kündigungsschutzklage des Klägers mit Urteil vom 8. Februar 1993 statt; das mit nicht ordnungsgemäßer Betriebsratsanhörung begründete Urteil wurde rechtskräftig, als die Beklagte am 4. Oktober 1993 ihre Berufung zurücknahm.
Die Beklagte hatte zuvor nochmals ein sogenanntes Personalclearing begonnen, indem sie mit Schreiben vom 21. Januar 1993 bei sämtlichen Personalabteilungen des Unternehmens angefragt hatte, ob eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für den Kläger auf einem zu besetzenden Arbeitsplatz bestehe. Alle angeschriebenen Stellen antworteten, daß weder zum damaligen Zeitpunkt noch in absehbarer Zukunft eine Einsatzmöglichkeit vorhanden sei. Der ebenfalls angeschriebene Leiter des Aus- und Weiterbildungszentrums Berlin, der um die nochmalige Prüfung einer Beschäftigungsmöglichkeit für den Kläger gebeten worden war, verneinte mit Schreiben vom 17. Februar 1993 eine Einsatzmöglichkeit. Die Beklagte unterrichtete daraufhin in einem Gespräch am 22. Februar 1993 den Betriebsrat der Betriebsstätte H. erneut über eine beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisse aus wichtigem Grund. Der Betriebsrat äußerte mit Schreiben vom 23. Februar 1993 Bedenken gegen die beabsichtigte Kündigung.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 26. Februar 1993, das der Kläger am gleichen Tage erhielt, aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung, vorsorglich zum 30. September 1993 wegen des Wegfalls des Arbeitsplatzes in der Zentralbibliothek Berlin und der fehlenden Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung.
Mit seiner Klage hat sich der Kläger gegen die ausgesprochene Kündigung gewandt und beantragt,
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigung der Beklagten vom 26. Februar 1993 noch durch sonstige Beendigungsgründe aufgelöst worden ist, sondern unverändert über den 31. März 1993 und den 30. September 1993 fortbesteht;
- die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluß des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat vorgetragen, es gebe in ihrem Unternehmen keine Beschäftigungsmöglichkeit für den Kläger. Die versuchsweise Beschäftigung des Klägers im Aus- und Weiterbildungszentrum sei gescheitert.
Das Arbeitsgericht hat festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 26. Februar 1993 nicht fristlos aufgelöst wurde, sondern bis zum 30. September 1993 fortbestanden hat, und im übrigen die Klage abgewiesen. Mit der Berufung hat der Kläger den abgewiesenen Teil seines Feststellungsantrags weiterverfolgt und dazu klargestellt, daß mit diesem Antrag lediglich die Kündigung vom 26. Februar 1993 angegriffen werden solle. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger den abgewiesenen Teil seines Feststellungsantrags weiter.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet, weil die Beklagte entgegen der angefochtenen Entscheidung die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten hat.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, für die Kündigung habe ein wichtiger Grund im Sinne von Nr. 9.6 MTV in Verbindung mit § 626 BGB vorgelegen. Dem stehe nicht entgegen, daß die Kündigung nicht aus Verhaltens- oder personenbedingten Gründen, sondern wegen der Schließung der Zentralbibliothek Berlin und damit wegen betrieblicher Erfordernisse erfolgt sei. Zwar rechtfertigten dringende betriebliche Gründe, die zu einem Wegfall des Arbeitsbedarfs führen, in aller Regel nur den Ausspruch einer ordentlichen Kündigung, was sich aus § 1 Abs. 2 KSchG, dem ultima-ratio-Prinzip und dem Grundsatz, daß der Arbeitgeber das Wirtschaftsrisiko nicht auf den Arbeitnehmer abwälzen dürfe, ergebe. Sei jedoch eine ordentliche Kündigung nicht möglich, weil sie z.B. tarifvertraglich ausgeschlossen sei, so könne das Fehlen jeder Beschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer zur Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses führen. Neben dem Fall einer Betriebsschließung komme dabei auch der sonstige Wegfall des Aufgabengebiets des Arbeitnehmers als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung in Betracht. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall gegeben.
Unstreitig sei der Arbeitsplatz des Klägers infolge der Schließung der Zentralbibliothek Berlin auf Dauer weggefallen und damit eine Beschäftigungsmöglichkeit als Bibliotheksleiter nicht mehr vorhanden.
Freie oder demnächst freiwerdende Arbeitsplätze, auf denen die Beklagte den Kläger hätte weiterbeschäftigen können, habe es im Unternehmen nicht gegeben. Einen neuen Arbeitsplatz zu schaffen, könne von der Beklagten nicht gefordert werden. Dies gelte auch für eine Weiterbeschäftigung im Aus- und Weiterbildungszentrum Berlin.
Die vom Arbeitsgericht zutreffend vorgenommene Interessenabwägung ergebe die Unzumutbarkeit einer Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses bis voraussichtlich zur Vollendung des 65. Lebensjahres des Klägers. Für mehr als sieben Jahre die vereinbarte Vergütung ohne Gegenleistung zu zahlen, könne von der Beklagten nicht verlangt werden; zwar sei es dem Kläger bei der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage wohl kaum möglich, eine vergleichbare Beschäftigung zu finden, er habe aber die Möglichkeit, nach Vollendung des 60. Lebensjahres bei fortdauernder Arbeitslosigkeit vorgezogenes Altersruhegeld zu beziehen und damit seine finanziellen Einbußen in Grenzen zu halten.
Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei eingehalten, weil das Personal-Clearing erst am 17. Februar 1993 abgeschlossen worden sei. Aufgrund des seit dem Ende des Einsatzes des Klägers im Aus- und Weiterbildungszentrum Berlin vergangenen Zeitraums habe die Beklagte durch erneute Antragen in Erfahrung bringen dürfen, ob sich inzwischen andere Einsatzmöglichkeiten für den Kläger ergeben hätten.
II. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten einer rechtlichen Überprüfung im Ergebnis nicht stand. Mit Recht rügt die Revision, das Landesarbeitsgericht habe verkannt, daß die Beklagte die Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht gewahrt hat.
1. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, die Beklagte habe eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses erklärt, welche im Fall des tarifvertraglichen Ausschlusses einer ordentlichen fristgerechten Kündigung ausnahmsweise auch aus betrieblichen Gründen in Betracht kommt und dann uneingeschränkt den Anforderungen des § 626 BGB genügen muß (vgl. BAGE 48, 220 = AP Nr. 86 zu § 626 BGB; KR-Hillebrecht, 3. Aufl., § 626 BGB Rz 120, 121 a, 313, m.w.N.). Insbesondere muß auch die Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten werden. Danach kann die außerordentliche Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen ab Kenntniserlangung von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erfolgen. Betriebliche Erfordernisse sind dabei kein Dauertatbestand derart, daß die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht zu laufen beginnen würde, solange der Bedarf einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers entfällt. Die Frist beginnt zwar nicht schon im Zeitpunkt der Unternehmerentscheidung, die zum Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit führt, wohl aber dann, wenn sich die Unternehmerentscheidung konkret auswirkt und die Weiterbeschäftigung für einen oder mehrere bestimmte Arbeitnehmer nicht mehr möglich ist (vgl. BAG Urteil vom 25. März 1976 – 2 AZR 127/75 – AP Nr. 10 zu § 626 BGB Ausschlußfrist; BAGE 48, 220 = AP Nr. 86 zu § 626 BGB; Urteil vom 22. Juli 1992 – 2 AZR 84/92 – EzA § 626 n.F. BGB Nr. 141; KR-Hillebrecht, a.a.O., Rz 226 ff., 230; Ascheid, Kündigungsschutzrecht. Rz 156; Erman/Hanau, BGB, 9. Aufl., § 626 Rz 89; Kittner/Trittin, Kündigungsschutzrecht, 2. Aufl., § 626 BGB Rz 285; Rohlfing/Rewolle/Bader, KSchG, Anh. 1 BGB § 626 Anm. 4 c; Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 5. Aufl., Rz 481; Staudinger/Preis, BGB, 13. Aufl., § 626 Rz 281).
2. Bei Anwendung dieser Grundsätze ist es rechtsfehlerhaft, wenn das Landesarbeitsgericht den Beginn der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erst für den Zeitpunkt angenommen hat, als der Leiter des Aus- und Weiterbildungszentrums Berlin mit Schreiben vom 17. Februar 1993 nach nochmaliger Überprüfung eine Einsatzmöglichkeit für den Kläger verneint hatte. Käme es auf den Zeitpunkt der Schließung der Zentralbibliothek an, wäre die Ausschlußfrist bereits 1991 abgelaufen. Jedenfalls hat aber die Beklagte selbst vorgetragen, daß eine Weiterbeschäftigung des Klägers in dem Aus- und Weiterbildungszentrum bereits im September 1992 als gescheitert angesehen wurde und daß bereits vor Ausspruch der Kündigung vom 28. September 1992 ein sogenanntes Personal-Clearing durchgeführt worden war, welches für den Kläger keine anderen Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten ergeben hatte. Spätestens mit der Feststellung der fehlenden fachlichen Eignung des Klägers für die Tätigkeit im Aus- und Weiterbildungszentrum im September 1992 und der damals ergebnislos gebliebenen Durchführung des ersten Personal-Clearings haben die Gründe in der Person des Klägers und das betriebliche Erfordernis für die Kündigung festgestanden. Die daraus folgende fehlende Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung des Klägers stellte – wie dargelegt – keinen Dauertatbestand dar. Sie ist eine bloße Fortwirkung der umgesetzten unternehmerischen Entscheidung der Schließung der Zentralbibliothek und der Beurteilung des Klägers als fachlich ungeeignet für die Tätigkeit im Aus- und Weiterbildungszentrum. Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB lief daher spätestens im Oktober 1992 ab. Neue Kündigungsgründe, die die Frist des § 626 Abs. 2 BGB erneut in Lauf setzen könnte, hat die Beklagte nicht geltend gemacht.
Daß die Kündigung vom 28. September 1992 mit Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 8. Februar 1993 – 69 Ca 26751/92 – mangels ordnungsgemäßer Betriebsratsanhörung für unwirksam erachtet wurde und daß die Beklagte dieses Urteil durch Rücknahme ihrer Berufung rechtskräftig werden ließ, setzte die Ausschlußfrist nicht erneut in Lauf. Die Beklagte konnte die bereits abgelaufene Frist auch nicht dadurch erneut in Gang setzen, daß sie mit Schreiben vom 21. Januar 1993 nochmals ein sogenanntes Personal-Clearing durchführte. Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts ist somit die streitige außerordentliche Kündigung verspätet und konnte das Arbeitsverhältnis der Parteien schon deshalb nicht auflösen.
Daran ändert nichts, daß der Kläger die Versäumung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erstmals im Revisionsverfahren moniert hat. Vorliegend gab und gibt nämlich schon das eigene Vorbringen der Beklagten, eine Weiterbeschäftigung des Klägers im Aus- und Weiterbildungszentrum Berlin sei bereits im September 1992 als gescheitert angesehen worden und schon vor der Kündigung vom 28. September 1992 sei ein sog. Personal-Clearing ergebnislos geblieben, auch ohne ein Bestreiten des Klägers Anlaß, die Wahrung der materiell-rechtlichen Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB zu prüfen. Die Prüfung führt – wie dargelegt – zu dem Ergebnis, daß die Frist versäumt ist.
Unterschriften
Etzel, Bröhl, Fischermer, Rupprecht, Dr. Roeckl
Fundstellen