Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Dezember 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen einer als Berufskrankheit (BK) anerkannten Lärmschwerhörigkeit streitig.
Der im Jahre 1941 geborene Kläger war während seiner beruflichen Tätigkeit bis zum Jahre 1980 insgesamt etwa 15 Jahre gehörschädigendem Lärm ausgesetzt, zuletzt als Steinsetzer in einem Straßen- und Tiefbauunternehmen. Seit Oktober 1986 arbeitet er als Bohrwerksdreher in nicht gehörschädigendem Lärm. Bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung wurde die bei ihm bestehende Schwerhörigkeit festgestellt und unter dem 16. Februar 1987 die ärztliche Anzeige über eine BK gefertigt.
Nach Einholung eines Gutachtens vom 11. März 1991 und einer ergänzenden Stellungnahme vom 24. Juli 1991 von dem HNO-Arzt Dr. K … und einer Stellungnahme des Gewerbearztes Dr. R … vom 28. Mai 1991 stellte die Beklagte mit Bescheid vom 27. August 1991 idF des Widerspruchsbescheids vom 30. September 1992 fest, daß die bei dem Kläger bestehende Hörstörung durch die versicherte Tätigkeit verursacht worden sei. Ein Anspruch auf Entschädigungsleistungen bestehe jedoch nicht, weil die durch berufliche Lärmeinwirkung verursachte Hochtonstörung kein rentenberechtigendes Ausmaß erreiche. Die darüber hinaus bestehende Hörbeeinträchtigung sei nicht Folge beruflicher Lärmeinflüsse.
Das Sozialgericht (SG) hat ein HNO-fachärztliches Gutachten von Prof. Dr. C … vom 10. Mai 1994 eingeholt, der zu dem Ergebnis kam, die Lärmbelastung sei zu weniger als der Hälfte ursächlich für die Hörschädigung des Klägers, die insgesamt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 35 vH bedinge. Deshalb sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers infolge der Lärmschwerhörigkeit nicht in rentenberechtigendem Grad gemindert. Der daraufhin auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gehörte HNO-Arzt Prof. Dr. v W … … … führte in seinem Gutachten vom 9. Dezember 1994 aus, eine exakte Trennung zwischen lärmbedingter und schicksalsbedingter Schwerhörigkeit sei nicht möglich. Die MdE für den lärmbedingten Anteil schätze er bis zum Jahre 1994 auf 20 vH und danach auf 30 vH. Gegen diese Wertung hat die Beklagte die Stellungnahme des HNO-Arztes Dr. J … vom 1. März 1995 vorgelegt, der die von dem vorhergehenden Sachverständigen vorgenommene Teilung der Schwerhörigkeit nicht für angemessen hielt.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 3. Mai 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 19. Dezember 1996). Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente, da der bei ihm bestehende Hörverlust nicht Folge der BK Lärmschwerhörigkeit sei. Daß die lärmunabhängigen Faktoren rechtlich allein wesentlich für die Hörstörung des Klägers seien, ergebe sich bereits aus den Befunden im Tonaudiogramm. Zutreffend habe das SG auch aus dem klinischen Verlauf der Hörstörung des Klägers auf das endogene Krankheitsgeschehen als rechtlich allein wesentliche Ursache für den Hörverlust des Klägers abgestellt. Denn es bestehe eine Übereinstimmung zwischen dem Lärmexpositionszeitraum und der Entwicklung der Schwerhörigkeit, die hier fehle. Auch sei die Wertung der Sachverständigen Dr. K …, Dr. R … und Prof. Dr. C … insgesamt überzeugend, daß für die Hörstörung des Klägers dem endogenen Krankheitsgeschehen die entscheidende Bedeutung zukomme. Für das LSG nachvollziehbar habe Dr. K … auf die für eine Hörschädigung in Betracht kommende durch Hypertonie, Herzinsuffizienz und Alkohol hervorgerufene cerebro-vaskuläre Insuffizienz hingewiesen. Schließlich sei das Ausmaß des Hörverlustes für die Entscheidung des Senats nicht erheblich. Entscheidend sei vielmehr, daß sich eine wesentliche Mitverursachung der Hörstörung durch Berufslärm nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lasse.
Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 581 der Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm § 136 Abs 1 Nr 6 SGG sowie der §§ 62, 128 iVm § 103 SGG. Mit der Feststellung des LSG auf S 9 erster Satz der Urteilsgründe, „daß die lärmunabhängigen Faktoren rechtlich allein wesentlich für die Hörstörung des Klägers sind”, sei er – der Kläger – überrascht worden. Zwischen den Beteiligten sei umstritten, ob die bei ihm mit Bescheid vom 27. August 1991 dem Grunde nach anerkannte berufsbedingte Hörstörung (Lärmschwerhörigkeit) in entschädigungspflichtiger Höhe vorliege. Deshalb habe er seine Klage lediglich daraufhin führen müssen, daß seine Hörstörung auch eine entschädigungspflichtige Höhe erreicht habe. Das LSG habe jedoch die Klage mit der Begründung zurückgewiesen, die lärmunabhängigen Faktoren seien rechtlich allein wesentlich für die Hörstörung. Hierzu habe er sich vor der Entscheidung nicht äußern können. Ihm sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden. Alle Gutachter, auch der vom LSG insbesondere in Bezug genommene Dr. K … seien in ihren Gutachten von zumindest einem erheblichen berufsbedingten Anteil an der vorliegenden Gesamthörstörung ausgegangen. Streitig sei indessen die Höhe des berufsbedingten Anteils dahingehend, ob er als wesentliche Teilursache eine entschädigungspflichtige Höhe (MdE um 20 vH) erreicht habe oder nicht. Hätte das LSG ihn auf diese Tatsachen hingewiesen, hätte er beantragen können, einen Gutachter darüber zu befragen, ob nach den medizinischen Erkenntnissen die beruflichen Einwirkungen geeignet gewesen seien, die vorliegende Hörstörung zumindest iS einer wesentlichen Teilursache zu bewirken. Außerdem sei das LSG seinem in der mündlichen Verhandlung am 19. Dezember 1996 gestellten Hilfsantrag, dem Sachverständigen Prof. Dr. v W … die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. J … vom 1. März 1995 zur Äußerung vorzulegen, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.
Der Kläger beantragt,
- das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Dezember 1996 (L 6 U 206/95) und der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 3. Mai 1995 (7 SU 70202/92) werden aufgehoben,
- die Beklagte wird unter Abänderung ihres Bescheides vom 27. August 1991, Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 30. September 1992 verurteilt, dem Kläger ab 1. Februar 1987 Verletztenrente in Höhe von 20 vH und ab 1. Dezember 1994 in Höhe von 30 vH der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Das angefochtene Urteil beruht auf dem gerügten Verfahrensfehler, daß das LSG unter Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes) zu dem Ergebnis gelangt ist, lärmunabhängige Faktoren seien rechtlich allein wesentlich für die Hörstörung des Klägers.
Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BSG SozR 3-4100 – § 103 Nr 4 mwN). Kann ein Beteiligter nach dem bisherigen Verfahren davon ausgehen, daß eine Anspruchsvoraussetzung nicht angezweifelt wird und nur andere Anspruchsvoraussetzungen streitig sind, hat das Gericht bei anderer Würdigung die Beteiligten vorher darauf hinzuweisen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich hierzu zu äußern und ggf entsprechende Beweisanträge zu stellen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 70; s auch BSG SozR 1500 § 62 Nr 20). Eine Prozeßpartei darf nicht mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, die von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (BGH VersR 1967, 1095).
Hier rügt der Beschwerdeführer zu Recht, er sei von der Begründung im angefochtenen Urteil, mit der das LSG seinen Klageanspruch auf Verletztenrente verneint habe, überrascht worden. Der Kläger brauchte nach dem Verwaltungsverfahren und dem bisherigen Prozeßverlauf nicht damit zu rechnen, daß das LSG zu der Feststellung gelangt, daß die lärmunabhängigen Faktoren rechtlich allein wesentlich für seine Hörstörung seien. Der vorliegende Rechtsstreit wurde allein darum geführt, ob die von der Beklagten im Bescheid vom 27. August 1991 dem Grunde nach als beruflich bedingt anerkannte Hörstörung des Klägers eine entschädigungspflichtige Höhe erreicht oder nicht.
Allein schon aus diesem Grund war die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), ohne daß es noch darauf ankommt, ob auch der vom Kläger geltend gemachte weitere Verfahrensmangel, das LSG sei ohne hinreichende Begründung seinem Hilfsbeweisantrag nicht gefolgt, vorliegt und ebenfalls zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.
Eine abschließende Entscheidung war dem Senat nicht möglich, weil das LSG – aufgrund seiner Rechtsauffassung – keine tatsächlichen Feststellungen über die durch die im Bescheid vom 27. August 1991 idF des Widerspruchsbescheids vom 30. September 1992 festgestellte Berufskrankheit bedingte MdE getroffen hat. Dabei wird das LSG die Bindungswirkung dieser Bescheide zu beachten haben. Sie erübrigt zwar nicht die Prüfung, ob eine auf der Schwerhörigkeit beruhende MdE ganz oder nur teilweise auf die festgestellte Lärmschwerhörigkeit zurückzuführen ist, steht aber im Rahmen des vom Kläger durchgeführten Klageverfahrens auf Zahlung einer Verletztenrente einer Entscheidung entgegen, welche ohne diese Prüfung davon ausgeht, die Schwerhörigkeit des Klägers sei schon grundsätzlich gänzlich zu Unrecht als Lärmschwerhörigkeit festgestellt.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen