Entscheidungsstichwort (Thema)
Verhaltensbedingte Kündigung. Präventionsverfahren. Ordentliche betriebsbedingte Kündigung wegen Arbeitszeitmanipulation (mindestens Verdacht): vorzeitiges Verlassen des Arbeitsplatzes trotz Vorlage vollständiger Stundennachweise offensichtlich in Zusammenwirken mit dem Vorarbeiter. Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX und verhaltensbedingte Kündigung: Rechtsfolgen nicht durchgeführter Prävention für Kündigung: Unwirksamkeit der Kündigung, Berücksichtigung bei Interessenabwägung?
Leitsatz (amtlich)
Die Durchführung des Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen. Die Vorschrift stellt eine Konkretisierung des dem gesamten Kündigungsschutzrecht innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar.
Orientierungssatz
- Die Durchführung des Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung mit der Folge, dass eine Kündigung grundsätzlich nach § 84 Abs. 1 SGB IX unwirksam wäre, wenn ein Präventionsverfahren vor ihrem Ausspruch nicht durchgeführt worden ist.
- Ebenso wenig stellt § 84 Abs. 1 SGB IX eine reine Ordnungsvorschrift mit bloßem Appellativcharakter dar, deren Missachtung in jedem Fall folgenlos bliebe. Ziel der gesetzlichen Prävention ist die frühzeitige Klärung, ob und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um eine möglichst dauerhafte Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu erreichen. Die in § 84 Abs. 1 SGB IX genannten Maßnahmen dienen damit letztlich der Vermeidung eines Kündigungsausspruchs zur Verhinderung der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen.
- Das gesetzliche Präventionsverfahren stellt eine Konkretisierung des dem gesamten Kündigungsschutzrecht innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar.
- Eine Kündigung kann damit wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als sozial ungerechtfertigt zu beurteilen sein, wenn bei gehöriger Durchführung des Präventionsverfahrens Möglichkeiten bestanden hätten, die Kündigung zu vermeiden. Im Umkehrschluss steht das Unterbleiben des Präventionsverfahrens einer Kündigung dann nicht entgegen, wenn die Kündigung auch durch das Präventionsverfahren nicht hätte verhindert werden können.
- Ist das Integrationsamt nach eingehender Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen ist, kann nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX hätte die Kündigung verhindern können.
- “Schwierigkeiten” iSv. § 84 Abs. 1 SGB IX können nach dem oben dargestellten Sinn des Präventionsverfahrens nur dann vorliegen, wenn es sich um Unzuträglichkeiten handelt, die noch nicht den Charakter von Kündigungsgründen aufweisen. Denn nach dem Gesetz sollen die präventiven Maßnahmen eine Gefährdung des Arbeitsverhältnisses verhindern, also der Gefährdung und damit dem Entstehen von Kündigungsgründen zuvorkommen. Sind solche Gründe aber bereits entstanden, so können sie nicht mehr verhindert werden.
Normenkette
KSchG § 1; SGB IX § 84 Abs. 1
Verfahrensgang
LAG Berlin (Urteil vom 22.08.2005; Aktenzeichen 12 Sa 1052/05) |
ArbG Berlin (Urteil vom 02.02.2005; Aktenzeichen 86 Ca 22222/04) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 22. August 2005 – 12 Sa 1052/05 – wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung sowie über einen hilfsweise gestellten Auflösungsantrag des Arbeitgebers.
Der 1961 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger (schwerbehindert, GdB 70; Merkzeichen G… – erheblich gehbehindert –) ist seit 1993 bei der Beklagten als Arbeiter, zuletzt in der sog. Schlacke-Aufbereitungsanlage (SAB) der Müllverbrennungsanlage R… tätig.
Bei der Beklagten werden Zutritt und Verlassen des Betriebsgeländes mittels eines elektronischen Anwesenheitskontrollsystems erfasst. Das System dient – nach Absprache mit dem Personalrat – nicht der Auswertung der Anwesenheitszeiten der Mitarbeiter. Die Arbeitszeit wird über Stundennachweisbögen erfasst, die der Vorarbeiter ausfüllt und abzeichnet. In der Zeit vom 4. bis 13. November 2003 war der Kläger – ebenso wie sein Vorarbeiter und weitere Kollegen – jeweils ca. 2 Stunden vor Schichtende nicht mehr als anwesend im Zugangskontrollsystem erfasst. An diesen Tagen hatte er Spätschicht, die montags bis donnerstags um 22.40 Uhr und freitags um 19.40 Uhr endet. Die vom Vorarbeiter abgezeichneten Stundennachweise weisen für den Kläger indes jeweils die volle Arbeitszeit aus.
Die Beklagte hörte den Kläger am 17. November 2003 zum Vorwurf des vorzeitigen Verlassens des Arbeitsplatzes an und stellte ihn ab 19. November 2003 von seiner Arbeitspflicht frei. Mit Schreiben vom 20. November 2003 bat die Beklagte den Personalrat um Zustimmung zu einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung wegen Arbeitszeitbetruges bzw. eines entsprechenden Verdachts. Der Personalrat stimmte letztlich im Rahmen des personalvertretungsrechtlichen Einigungsstellenverfahrens dem Ausspruch einer ordentlichen Kündigung unter Verdoppelung der längsten tariflichen Kündigungsfrist zu. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis daraufhin mit Schreiben vom 31. August 2004 ordentlich zum 30. September 2005. Gegen die zuvor erteilte Zustimmung des Integrationsamtes hat der Kläger Widerspruch eingelegt, welcher zurückgewiesen worden ist. Die hiergegen erhobene Klage vor dem Verwaltungsgericht war zum Zeitpunkt der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts noch nicht beschieden.
Der Kläger hat eine Pflichtverletzung bestritten und vorgetragen, er habe seine Arbeitszeiten regelmäßig eingehalten. Auf die Daten des Zugangskontrollsystems könne die Beklagte sich nicht berufen, weil eine solche Auswertung mit dem Personalrat nicht abgesprochen gewesen sei. Die Kündigung sei in Anbetracht seiner privaten Situation und wegen seiner langen Betriebstreue unverhältnismäßig. Jedenfalls sei die Kündigung unwirksam, weil die Beklagte kein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX durchgeführt habe.
Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 31. August 2004 nicht aufgelöst wird,
2. für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu den Bedingungen des Arbeitsvertrages vom 21. April 1993 als Arbeiter weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung, die in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, aufzulösen.
Die Beklagte hat vorgetragen, der Kläger habe in erheblichem Maße gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen, weil er vom 4. bis 13. November 2003 an mehreren Tagen vorzeitig die Arbeit beendet, den Arbeitsplatz verlassen und sich durch Vortäuschen einer Arbeitsleistung Entgelt für mindestens 13,42 Stunden erschlichen habe. Jedenfalls bestehe insoweit ein dringender Verdacht. Das Verhalten des Klägers sei als Arbeitszeitbetrug zu werten. Auf ein Beweisverwertungsverbot könne der Kläger sich nicht berufen, denn eine etwaige Verletzung von Mitbestimmungsrechten sei durch die Zustimmung des Personalrates zur Kündigung geheilt worden. § 84 Abs. 1 SGB IX stehe dem Ausspruch einer Kündigung nicht entgegen. Der Vorwurf an den Kläger stehe nicht im Zusammenhang mit seiner Behinderung und die Vorschrift enthalte auch kein Kündigungsverbot.
Der Kläger hat beantragt, den Auflösungsantrag zurückzuweisen.
Er meint, der Auflösungsantrag der Beklagten sei unzulässig, weil die Kündigung nicht nur sozialwidrig, sondern auch aus sonstigen Gründen unwirksam sei. Einer betriebsdienlichen weiteren Zusammenarbeit stehe im Übrigen nichts entgegen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und den Auflösungsantrag der Beklagten zurückgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten unter Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Kläger Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg.
A. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt. Der Kläger habe in schwerwiegendem Maße gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen. Auf Grund der Gesamtumstände sei davon auszugehen, dass er an den streitigen Tagen jeweils zwei Stunden vor Schichtende seine Arbeit beendet und damit insgesamt mindestens 13,42 Stunden keine Arbeitsleistung erbracht habe. Jedenfalls sei die Kündigung als Verdachtskündigung gerechtfertigt. Die Beklagte dürfe sich auf die Ermittlung der Fehlzeiten mittels des Zugangskontrollsystems auch berufen, da der Personalrat der Kündigung im Einigungsstellenverfahren zugestimmt habe. Einer vorherigen Abmahnung habe es angesichts des erheblichen Pflichtverstoßes nicht bedurft. Auch die Interessenabwägung könne deshalb trotz seiner sozialen Situation nicht zugunsten des Klägers ausfallen. Der Personalrat sei ordnungsgemäß beteiligt worden. Die Kündigung sei auch nicht aus Gründen der Schwerbehinderung des Klägers unwirksam. Das Integrationsamt habe ihr zugestimmt und die Beklagte sei zur Einleitung eines Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX nicht verpflichtet gewesen. Die Norm sehe die Rechtsfolge der Unwirksamkeit einer Kündigung nicht vor. Jedenfalls dann, wenn wie vorliegend eine Abmahnung wegen der Schwere der Vertragsverletzung entbehrlich sei, müsse der Arbeitgeber ein Präventionsverfahren vor Kündigungsausspruch nicht durchführen. Der Kündigungsschutzprozess sei nicht bis zum Abschluss des vorgreiflichen Verfahrens über die Wirksamkeit der vom Integrationsamt erteilten Zustimmung auszusetzen. Hierzu bestehe angesichts der langen Verfahrensdauer bei den Verwaltungsgerichten, des arbeitsgerichtlichen Beschleunigungsgebotes und der Möglichkeit des Klägers, ggf. eine Restitutionsklage zu erheben, kein Anlass.
B. Dem stimmt der Senat im Ergebnis und im Wesentlichen auch in der Begründung zu.
I. Die Kündigung ist nicht schon gemäß § 79 Abs. 1, § 87 Nr. 9 PersVG Berlin iVm. § 108 Abs. 2 BPersVG unwirksam. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Beklagte habe den Personalrat vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß beteiligt. Diese Ausführungen lassen keinen Rechtsfehler erkennen. Rügen werden insoweit von der Revision nicht erhoben.
II. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Kündigung nach dem bisherigen Stand nicht nach § 85 SGB IX unwirksam ist, da das Integrationsamt seine Zustimmung zum Ausspruch der Kündigung erteilt hat. Das Landesarbeitsgericht musste das Verfahren nicht nach § 148 ZPO bis zur rechtskräftigen Entscheidung der anhängigen Klage vor dem Verwaltungsgericht aussetzen. Die Entscheidung über die Aussetzung steht im Ermessen des Gerichts (vgl. Senat 20. Januar 2000 – 2 AZR 378/99 – BAGE 93, 255; 26. September 1991 – 2 AZR 132/91 – AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 28 = EzA KSchG § 1 Personenbedingte Kündigung Nr. 10). Dieses Ermessen hat das Berufungsgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Die Revision zeigt konkrete Ermessensfehler nicht auf und hat insoweit auch keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben.
III. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht erkannt, dass die Kündigung der Beklagten vom 31. August 2004 sozial gerechtfertigt ist. Ihr liegen verhaltensbedingte Gründe iSv. § 1 Abs. 2 KSchG zugrunde.
1. Bei der Frage der Sozialwidrigkeit einer Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG handelt es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden kann, ob das Landesarbeitsgericht in dem angefochtenen Urteil den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 1 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es bei der gebotenen Interessenabwägung, bei der dem Tatsachengericht ein Beurteilungsspielraum zusteht, alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob das Urteil in sich widerspruchsfrei ist (st. Rspr. des Senats zB 10. Oktober 2002 – 2 AZR 472/01 – BAGE 103, 111; 24. Juni 2004 – 2 AZR 63/03 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 49 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 65; 12. Januar 2006 – 2 AZR 21/05 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 53 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 67).
2. Unter Zugrundelegung dieses eingeschränkten Überprüfungsmaßstabs hält die angefochtene Entscheidung einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Es liegt ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund iSv. § 1 Abs. 2 KSchG vor.
a) Das Landesarbeitsgericht ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass der Kläger eine erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzung begangen hat. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, der Kläger habe im Zeitraum vom 4. bis zum 13. November 2003 im Umfang von insgesamt mindestens 13,42 Stunden keine Arbeitsleistung erbracht, weil er unerlaubt vorzeitig die Arbeit eingestellt habe. Die gesamten Umstände sprächen auch dafür, dass der Kläger davon ausgegangen sei, trotz der Fehlzeiten sein volles Arbeitsentgelt zu erhalten. An diese von der Revision nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen ist der Senat nach § 559 ZPO gebunden.
b) Die Daten aus dem Anwesenheitskontrollsystem sind auch nicht deshalb unverwertbar, weil die Auswertung Mitbestimmungsrechte des Personalrats verletzen würde. Zum einen betrifft der Vorwurf der Beklagten hier die Missachtung der im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Hauptleistungspflicht des Klägers zur Arbeit, nicht aber den kollektiv-rechtlichen Gehalt der betroffenen Norm. Außerdem hat der Kläger die tatsächlichen Abwesenheitszeiten nicht bestritten, sondern sich lediglich auf rechtfertigende Gründe berufen. Schließlich ist auch die rechtliche Wertung des Landesarbeitsgerichts nicht zu beanstanden, dass sich aus einem Verstoß gegen § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG (vgl. § 85 Abs. 1 Nr. 13 PersVG Berlin), jedenfalls dann kein eigenständiges Beweisverwertungsverbot ergibt, wenn der Personalrat der Verwendung eines Beweismittels und der darauf gestützten Kündigung zustimmt (vgl. Senat 27. März 2003 – 2 AZR 51/02 – BAGE 105, 356). Dass die Beweisverwertung nach den allgemeinen Grundsätzen nicht gerechtfertigt wäre, hat der Kläger selbst nicht behauptet.
c) Das Landesarbeitsgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers ohne vorherige Abmahnung ordentlich kündigen konnte. Wie für jeden Arbeitnehmer auf der Hand liegt, ist kein Arbeitgeber damit einverstanden, dass die Mitarbeiter ganzer Schichten in offensichtlichem Zusammenwirken mit dem Vorarbeiter heimlich die Arbeit vor Schichtende einstellen.
3. Entgegen der Auffassung der Revision scheitert die Wirksamkeit der Kündigung nicht daran, dass die Beklagte vor Kündigungsausspruch kein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX durchgeführt hat.
a) Nach § 84 Satz 1 SGB IX schaltet der Arbeitgeber bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung, die in § 93 SGB IX genannten Mitarbeitervertretungen sowie das Integrationsamt ein, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann. Die Vorschriften über präventive Maßnahmen sind zum ersten Mal im Rahmen des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vom 29. September 2000 (BGBl. I S. 1394) durch § 14c SchwbG in das Schwerbehindertengesetz eingeführt worden. Die Nachfolgeregelung des § 84 Abs. 1 SGB IX ist inhaltsgleich mit dem aufgehobenen § 14c SchwbG. Die Regelung in § 84 Abs. 1 SGB IX richtet sich an Arbeitgeber, die schwerbehinderte Mitarbeiter beschäftigen (Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen-Neumann SGB IX 11. Aufl. § 84 Rn. 2; Brose RdA 2006, 149; zu § 14c SchwbG: Dörner SchwbG Stand 15. Mai 2001 § 14c Rn. 3).
b) Die Durchführung des Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung mit der Folge, dass eine Kündigung grundsätzlich nach § 84 Abs. 1 SGB IX unwirksam wäre, wenn ein Präventionsverfahren vor ihrem Ausspruch nicht durchgeführt worden ist. Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung kann § 84 Abs. 1 SGB IX nicht als Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB betrachtet werden. Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB verhindern das Zustandekommen einer rechtsgeschäftlichen Regelung (BAG 26. Februar 1991 – 3 AZR 213/90 – AP BetrAVG § 1 Lebensversicherung Nr. 15 = EzA KO § 43 Nr. 2). Das Verbot muss sich gerade gegen die Vornahme des Rechtsgeschäfts richten (BGH 8. Juni 1983 – VIII ZR 77/82 – NJW 1983, 2873). Weder dem Wortlaut des § 84 Abs. 1 SGB IX, noch der Gesetzesbegründung lässt sich entnehmen, dass Rechtsfolge einer Verletzung von § 84 Abs. 1 SGB IX stets die Unwirksamkeit einer Kündigung sein soll (aA Brose RdA 2006, 149; Schimanski BehindertenR 2002, 121). Während § 85 SGB IX ausdrücklich vorschreibt, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der Zustimmung des Integrationsamtes bedarf, und damit den Ausspruch der Kündigung verbietet, ihn jedoch unter einen Erlaubnisvorbehalt stellt, findet sich eine solche Formulierung in § 84 Abs. 1 SGB IX nicht. Die systematische Zuordnung der Vorschrift unter Kapitel 3: “Sonstige Pflichten der Arbeitgeber; Rechte der schwerbehinderten Menschen” statt unter Kapitel 4: “Kündigungsschutz” weist in dieselbe Richtung. Nach der Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vom 29. September 2000 (BGBl. I S. 1394; BT-Drucks. 14/3372 S. 16) sollte durch den Ausbau der betrieblichen Prävention die Entstehung von Schwierigkeiten bei der Beschäftigung Schwerbehinderter möglichst verhindert bzw. sollten diese jedenfalls möglichst frühzeitig behoben werden. Dieser Zweck erfordert es zwar, schwerbehinderte Arbeitnehmer vor Beeinträchtigungen zu schützen, nicht jedoch, sie von vorneherein – und damit möglicherweise auch grundlos – besser zu stellen als Arbeitnehmer ohne Schwerbehinderung.
c) Ebenso wenig stellt allerdings § 84 Abs. 1 SGB IX eine reine Ordnungsvorschrift mit bloßem Appellativcharakter dar, deren Missachtung in jedem Fall folgenlos bliebe (so aber KR-Etzel 7. Aufl. vor §§ 85 – 92 SGB IX Rn. 36; Kossens/von der Heide/Maaß – SGB IX 2. Aufl. § 84 Rn. 6; Kossens/Maaß/Steck/Wollschläger Grundzüge des neuen Behindertenrechts 2003 Rn. 446; zu § 84 Abs. 2 SGB IX: Stahlhacke/Preis/Vossen-Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1230a). Durch die dem Arbeitgeber von § 84 Abs. 1 SGB IX auferlegten besonderen Verhaltenspflichten soll möglichst frühzeitig einer Gefährdung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen begegnet und die dauerhafte Fortsetzung der Beschäftigung erreicht werden. Ziel der gesetzlichen Prävention ist die frühzeitige Klärung, ob und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um eine möglichst dauerhafte Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu erreichen (BAG 4. Oktober 2005 – 9 AZR 632/04 – EzA SGB IX § 81 Nr. 9, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Die in § 84 Abs. 1 SGB IX genannten Maßnahmen dienen damit letztlich der Vermeidung eines Kündigungsausspruchs zur Verhinderung der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen.
d) Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass § 84 Abs. 1 SGB IX eine Konkretisierung des dem gesamten Kündigungsschutzrecht innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darstellt (so auch – mit Unterschieden im Einzelnen – Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen-Neumann SGB IX 11. Aufl. § 84 Rn. 17; Pahlen ARBlattei SD 1440.1 Rn. 167 f.; GK-SGB IX-Lampe Stand September 2006 § 85 Rn. 45, 238, 241; Kittner/Däubler/Zwanziger-Zwanziger KSchR 6. Aufl. § 85 SGB IX Rn. 42b; zu § 14c SchwbG: Düwell BB 2000, 2570, 2573; Dörner SchwbG Stand 15. Mai 2001 § 14c Rn. 9; APS/Vossen 2. Aufl. § 85 SGB IX Rn. 2a; offen gelassen: ErfK/Rolfs 7. Aufl. § 84 SGB IX Rn. 1). Eine Kündigung ist danach nur erforderlich (ultima ratio), wenn sie nicht durch mildere Maßnahmen zu vermeiden ist (Senat 15. August 2002 – 2 AZR 514/01 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 42 = EzA KSchG § 1 Nr. 56; 26. Januar 1995 – 2 AZR 649/94 – BAGE 79, 176; 12. Januar 2006 – 2 AZR 179/05 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 54 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 68). Eine Kündigung ist nicht gerechtfertigt, wenn es andere geeignete mildere Mittel gibt, um die Vertragsstörung zukünftig zu beseitigen (Senat 12. Januar 2006 – 2 AZR 179/05 –, aaO). Solche Mittel können beim Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Menschen die in § 84 Abs. 1 SGB IX genannten Möglichkeiten und Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Hilfen darstellen. Das Gesetz mutet dem Arbeitgeber grundsätzlich zu, mit Hilfe der genannten Stellen frühzeitig zu prüfen, ob und wie eine Gefährdung des Arbeitsverhältnisses und damit letztlich der Ausspruch einer Kündigung vermieden werden kann. Eine Kündigung kann damit wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als sozial ungerechtfertigt zu beurteilen sein, wenn bei gehöriger Durchführung des Präventionsverfahrens Möglichkeiten bestanden hätten, die Kündigung zu vermeiden (vgl. Düwell BB 2000, 2570, 2573). Im Umkehrschluss steht das Unterbleiben des Präventionsverfahrens einer Kündigung dann nicht entgegen, wenn die Kündigung auch durch das Präventionsverfahren nicht hätte verhindert werden können.
e) Nicht außer Betracht bleiben kann dabei, dass die Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen ohnehin nur dann zulässig ist, wenn das Integrationsamt nach § 85 SGB IX seine Zustimmung erteilt hat. Das Verfahren vor dem Integrationsamt nach §§ 85 ff. SGB IX stellt ein geordnetes Verfahren zur Prüfung der Rechte des schwerbehinderten Arbeitnehmers dar, dessen Entscheidung in mehreren Instanzen nachgeprüft werden kann (Senat 22. September 2005 – 2 AZR 519/04 – AP SGB IX § 81 Nr. 10 = EzA SGB IX § 81 Nr. 10). Das Integrationsamt hat hierbei die Interessen des Schwerbehinderten und die betrieblichen Interessen gegeneinander abzuwägen (vgl. Senat 20. Januar 2000 – 2 AZR 378/99 – BAGE 93, 255; BVerwG 11. November 1999 – 5 C 23/99 – BVerwGE 110, 67; 7. März 1991 – 5 B 114/89 – EzA SchwbG 1986 § 15 Nr. 4; 5. Juni 1975 – V C 57.73 – BVerwGE 48, 264). Ist das Integrationsamt nach eingehender Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen ist, kann nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX hätte die Kündigung verhindern können.
4. Unter Anwendung dieser Grundsätze führt das Unterbleiben des Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX nicht zu einer Interessenabwägung zu Lasten der Beklagten.
a) Es lagen bereits keine “Schwierigkeiten” iSv. § 84 Abs. 1 SGB IX vor. Solche “Schwierigkeiten” können nach dem oben dargestellten Sinn des Präventionsverfahrens nur dann angenommen werden, wenn es sich um Unzuträglichkeiten handelt, die noch nicht den Charakter von Kündigungsgründen aufweisen. Denn nach dem Gesetz sollen die präventiven Maßnahmen eine Gefährdung des Arbeitsverhältnisses verhindern, also der Gefährdung und damit dem Entstehen von Kündigungsgründen zuvorkommen. Sind solche Gründe aber bereits entstanden, so können sie nicht mehr verhindert werden. Das Arbeitsverhältnis ist dann bereits “kündigungsreif” und nicht etwa nur von Gefährdung bedroht. Eine Prävention, also eine Vorbeugung, kann es bei dieser Lage nicht mehr geben. Da im Streitfall Gründe vorlagen, die die Beklagte zur Kündigung ohne vorherige Abmahnung berechtigten, kann von “Schwierigkeiten” nicht gesprochen werden.
b) Der Einwand des Klägers, es habe erst im Präventionsverfahren geprüft werden müssen, ob das Arbeitsverhältnis so erheblich gestört gewesen sei, dass die Weiterführung nicht mehr zumutbar sei, geht ins Leere. Liegt eine erhebliche Vertragspflichtverletzung vor, die den Arbeitgeber ohne Ausspruch einer Abmahnung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses berechtigt, kann auch ein Präventionsverfahren nur zu dem Ergebnis führen, dass die Weiterbeschäftigung in Ermangelung von Präventionsmöglichkeiten unzumutbar ist. Wenn sich der Kläger daher in der Revision darauf beruft, die Beklagte habe bereits bei der ersten Feststellung von arbeitszeitlichen Unregelmäßigkeiten durch die Einleitung eines Präventionsverfahrens die Kündigung verhindern können, verkennt er die Erheblichkeit der ihm vorgeworfenen Vertragspflichtverletzung. Bereits bei der erstmaligen Erschleichung von Arbeitsentgelt hat der Kläger das Vertrauen der Beklagten in einem solchen Umfang missbraucht, dass auch durch eine Einschaltung der in § 84 SGB IX genannten Stellen eine Wiederherstellung des ungestörten Arbeitsverhältnisses nicht möglich gewesen wäre. Die Einleitung eines sinnlosen Präventionsverfahrens war der Beklagten nicht zuzumuten. Sie war vielmehr gehalten, ihren – berechtigten – Verdacht näher aufzuklären, um den Kündigungsvorwurf auch beweisen zu können. Die Tatsache, dass sie den Kläger aus diesem Grund einige Tage beobachtet hat, schließt die Vertragswidrigkeit seines Handelns nicht aus. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger ein Festgehalt bezogen hat. Auch diese Tatsache hätte in einem Präventionsverfahren keine Berücksichtigung finden können, da auch ein Festgehalt für eine bestimmte Anzahl von abzuleistenden Stunden gewährt wird. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger in der Revision darauf abhebt, er halte sich nunmehr seit 27. Juni 2005 an die Arbeitszeitvorgaben und neuen Abmeldevorschriften bei der Beklagten. Für die rechtliche Beurteilung einer Kündigung sind die Umstände im Zeitpunkt der Kündigung maßgeblich (Senat 14. September 1994 – 2 AZR 164/94 – BAGE 78, 18; 12. April 2002 – 2 AZR 148/01 – BAGE 101, 39). Das vom Kläger im Rahmen der Prozessbeschäftigung nachträglich gezeigte Bedauern konnte die eingetretene Störung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr beseitigen.
c) Im Übrigen hatten die Tatsachen, die zur Kündigung führten, auch keinerlei Zusammenhang mit der Schwerbehinderung des Klägers. Ob der gehbehinderte Kläger – wie vorinstanzlich behauptet – die Fehlzeiten teilweise mit der Reparatur seines Autos verbracht oder bisweilen zur Einnahme von Medikamenten genutzt hat, kann dahinstehen. Auch ein Arbeitnehmer mit einer Schwerbehinderung ist nicht berechtigt, seinen Arbeitgeber wegen derartiger privater Verrichtungen über den Umfang seiner Arbeitsleistungen zu täuschen, mögen sie auch durch die Schwerbehinderung veranlasst worden sein. Eine Präventionsmöglichkeit im Sinne von § 84 Abs. 1 SGB IX wird hierdurch nicht eröffnet.
d) Die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Interessenabwägung ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Das Landesarbeitsgericht hat im Rahmen der Interessenabwägung zugunsten des Klägers seine langjährige Betriebszugehörigkeit, seine soziale Situation, insbesondere sein Alter, seinen Familienstand und seine Schwerbehinderung berücksichtigt. Angesichts der Schwere der Pflichtverletzung und der für den Arbeitgeber bestehenden Notwendigkeit, auf die gleichmäßige und vollständige Einhaltung der Arbeitszeit durch alle Arbeitnehmer Bedacht zu nehmen, hat das Landesarbeitsgericht jedoch zu Recht dem Beendigungsinteresse der Beklagten Vorrang eingeräumt.
IV. Da das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 31. August 2004 beendet worden ist, war über den von der Beklagten in den Vorinstanzen hilfsweise gestellten Auflösungsantrag nicht mehr zu entscheiden. Mit der abschließenden Entscheidung des Senats über den Feststellungsantrag ist auch eine Entscheidung über den Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzverfahrens nicht mehr erforderlich (Senat 7. Oktober 2004 – 2 AZR 81/04 – BAGE 112, 148; 24. Juni 2004 – 2 AZR 326/03 – AP KSchG 1969 § 1 Nr. 76 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 132; 20. August 1997 – 2 AZR 620/96 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 27 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 7).
V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
Unterschriften
Rost, Bröhl, Schmitz-Scholemann, Heise, Grimberg
Fundstellen
Haufe-Index 1727159 |
BAGE 2008, 293 |
BB 2007, 1852 |
DB 2007, 1089 |
NJW 2007, 1995 |
NWB 2007, 4302 |
EBE/BAG 2007 |
FA 2007, 220 |
FA 2007, 241 |
FA 2007, 62 |
JR 2007, 484 |
NZA 2007, 617 |
SAE 2008, 191 |
ZTR 2007, 510 |
AP, 0 |
AuA 2007, 49 |
AuA 2007, 696 |
EzA-SD 2006, 11 |
EzA-SD 2007, 16 |
EzA |
MDR 2007, 844 |
PERSONAL 2007, 54 |
ZMV 2007, 39 |
br 2007, 140 |
AUR 2007, 224 |
AUR 2007, 275 |
AUR 2007, 50 |
ArbRB 2007, 169 |
GV/RP 2007, 738 |
KomVerw 2007, 293 |
NJW-Spezial 2007, 323 |
PflR 2007, 198 |
RdW 2007, 474 |
FuBW 2007, 794 |
FuHe 2007, 673 |
PuR 2007, 24 |
PuR 2007, 30 |
PuR 2007, 36 |
SPA 2007, 6 |
SPA 2007, 8 |