Orientierungssatz
(Zum Beginn der Ausschlußfrist des § 626 Abs 2 BGB)
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bedeutet Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen eine zuverlässige und möglichst vollständige positive Kenntnis des Kündigungssachverhalts, der dem Kündigungsberechtigten die Entscheidung ermöglicht, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar ist oder nicht.
Normenkette
MTB § 59; MTB 2 § 59; BGB § 626 Abs. 2
Verfahrensgang
LAG Schleswig-Holstein (Entscheidung vom 06.03.1986; Aktenzeichen 4 (5) (4) Sa 509/85) |
ArbG Kiel (Entscheidung vom 21.08.1985; Aktenzeichen 1c Ca 139/85) |
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer gegenüber dem Kläger ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung der Beklagten vom 29. Dezember 1984.
Der 49 Jahre alte, verheiratete Kläger war seit 17. Oktober 1966 auf dem Truppenübungsplatz P der Beklagten beschäftigt; seit 1968 übte er dort die Tätigkeit eines Kraftfahrers aus. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für Arbeiter des Bundes vom 27. Februar 1964 (MTB II) Anwendung. Vor etwa neun Jahren hatte der Kläger einen Strafbefehl über 200,-- DM wegen Diebstahls von Bundeswehrschrott erhalten.
Seit dem 18. Juni 1984 ermittelte die Polizeistation O aufgrund eines anonymen Anrufs gegen den Kläger wegen Verdachts des Diebstahls bzw. der Unterschlagung von Munitionsschrott. Im Verlauf dieser Untersuchung, in die seit Juni 1984 auch der Kommandant des Truppenübungsplatzes P, Oberstleutnant Wi, bzw. dessen Stellvertreter, Major G, sowie andere Offiziere und mindestens seit Anfang November 1984 das Bundesverteidigungsministerium - Abteilung ES -, das seit diesem Zeitpunkt auch selbst Ermittlungen durchführte, eingeschaltet waren, gab der Kläger zu, seit Jahren Munitionsschrott, den andere Mitarbeiter und Soldaten des Truppenübungsplatzes P ihm geliefert hätten, verkauft zu haben. Am 5. Dezember 1984 erhielt die Standortverwaltung P ein Fernschreiben der Abteilung ES aus Bonn mit folgendem Inhalt: "Am 27. November 1984 teilte mir die Staatsanwaltschaft in L mit, daß sie gegen H W wegen des Verdachts des Diebstahls von Munitionsschrotteilen ermittelte. W hat bei seiner polizeilichen Vernehmung zugegeben, innerhalb der zurückliegenden fünf Jahre Schrott und Munitionsschrotteile an sich gebracht und unerlaubterweise verkauft zu haben. Den aus den Schrottverkäufen herrührenden Erlös hat W teils für sich behalten, teils an Arbeiter auf dem Truppenübungsplatz P weitergereicht. Bei einem Schrotthändler in L konnte die Kripo in O Auszahlungsbelege auf den Namen W in Höhe von insgesamt 104.700,-- DM sicherstellen. Ich bitte, die notwendigen arbeitsrechtlichen Maßnahmen durchzuführen."
Am 20. Dezember 1984 teilte der Kommandant Wi dem Personalrat mit, daß beabsichtigt sei, das Arbeitsverhältnis des Klägers durch außerordentliche Kündigung zu beenden. Der Personalrat trug dagegen keine Bedenken vor.
Mit Schreiben vom 29. Dezember 1984, das zwei Mitarbeiter der Standortverwaltung am gleichen Tage morgens um 8.45 Uhr in den Briefkasten des Klägers einwarfen, sprach die Beklagte die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Begründung aus, die vom Kläger eingestandenen illegalen Schrottverkäufe stellten eine dermaßen schwerwiegende Verfehlung dar, daß nach Abwägen aller Umstände und Berücksichtigung der Person des Klägers die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar sei.
Durch Urteil des Amtsgerichts O vom 23. Januar 1986 wurde der Kläger wegen des Gesamtkomplexes "Schrottsammeln" zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Der Kläger hält die Kündigung für rechtsunwirksam, weil die Beklagte die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten habe. Auch hätten die Arbeiter auf dem Schießplatz seit Jahren mit Erlaubnis bzw. Billigung der vorgesetzten Dienststelle Schrott gesammelt; der Dienststelle sei auch bekannt gewesen, daß Schrott- und Munitionsteile verkauft worden seien.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende
Arbeitsverhältnis durch die fristlose
Kündigung der Beklagten vom 29. Dezember 1984
nicht aufgelöst worden sei.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie meint, die Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB (bzw. die entsprechende Ausschlußfrist des § 59 Abs. 2 MTB II) eingehalten zu haben. Die allein kündigungsberechtigte Standortverwaltung P habe durch das Eintreffen des Fernschreibens am 5. Dezember 1984 noch keine zuverlässige und positive Kenntnis vom Kündigungssachverhalt gehabt. Denn das Fernschreiben habe keine Unterschrift aufgewiesen, so daß sich nicht habe erkennen lassen, wer der verantwortliche Verfasser gewesen sei; auch habe es nur einen Extrakt dessen wiedergegeben, was aus einer dickleibigen Ermittlungsakte zusammengekommen sei. Es sei daher notwendig gewesen, daß der Beamte, der den Kläger anzuhören hatte, sich durch das Studium der Ermittlungsakten auf die Anhörung des Klägers vorbereitete; die Akten hätten sich jedoch am 5. Dezember 1984 noch in Bonn befunden. Die Beklagte habe erst nach der Anhörung des Klägers vom 17. Dezember 1984 davon ausgehen dürfen, daß der Sachverhalt für eine Verdachtskündigung hinreichend geklärt sei. Sie habe den Kläger nicht früher angehört, weil sie noch auf die zugesagte polizeiliche Ermittlungsakte gewartet habe. Nachdem die Akte jedoch nicht in der angekündigten Zeit eingetroffen sei, habe sie den Kläger am 17. Dezember 1984 auch ohne Vorliegen der Akte angehört, um nicht das Risiko einer Verfristung des Kündigungsgrundes nach allgemeinen Grundsätzen der Verwirkung einzugehen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter; der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
I. Das Landesarbeitsgericht hat die Kündigung vom 29. Dezember 1984 zu Recht bereits deshalb als unwirksam angesehen, weil die Beklagte die Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB (bzw. der gleichbedeutenden Vorschrift des § 59 MTB II) versäumt hat. Zur Begründung hat das Landesarbeitsgericht im wesentlichen ausgeführt, die Frist des § 626 Abs. 2 BGB habe mit dem Ablauf des 5. Dezember 1984 zu laufen begonnen. Denn Anlaß für die Kündigungsüberlegungen der Beklagten habe das Fernschreiben vom 5. Dezember 1984 sein müssen. Zwar sei der Beklagten aufgrund der beabsichtigten Verdachtskündigung zuzugestehen gewesen, vor Ausspruch der Kündigung den Kläger anzuhören; diese Anhörung habe jedoch innerhalb einer Woche stattfinden müssen. Ein Grund für eine Verlängerung der Frist habe nicht vorgelegen, zumal schon monatelang gegen den Kläger ermittelt worden sei und die Beklagte von diesen Ermittlungen gewußt habe. Angesichts des im Fernschreiben mitgeteilten Geständnisses des Klägers habe es des Eingangs der Untersuchungsakten nicht bedurft; die Anhörung hätte dabei unabhängig vom Eingang der Akten spätestens am 12. Dezember 1984 erfolgen müssen. Da die Anhörung vom 17. Dezember 1984 mithin verspätet erfolgt sei, habe sie nicht zur Hemmung der Ausschlußfrist führen können.
II. Dieser Würdigung schließt sich der Senat im Ergebnis und in den wesentlichen Teilen der Begründung an.
1. Gemäß § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB beginnt die Zweiwochenfrist, innerhalb derer eine außerordentliche Kündigung zu erklären ist, mit Kenntniserlangung des Kündigungsberechtigten von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. insbesondere Urteile vom 6. Juli 1972 - 2 AZR 386/71 - BAGE 24, 341 und vom 12. Februar 1973 - 2 AZR 116/72 - AP Nr. 3 und 6 zu § 626 BGB Ausschlußfrist) bedeutet Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen eine zuverlässige und möglichst vollständige positive Kenntnis des Kündigungssachverhalts, der dem Kündigungsberechtigten die Entscheidung ermöglicht, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar ist oder nicht. Hierfür genügt nicht die Kenntnis des Kündigungsgrundes bzw. des konkreten Kündigungsanlasses, d.h. des "Vorfalls", der einen wichtigen Grund darstellen könnte, weil sonst der Kündigungsberechtigte häufig gezwungen wäre, nur zur Wahrung der Ausschlußfrist die außerordentliche Kündigung übereilt auszusprechen. Dem Kündigungsberechtigten muß eine Gesamtwürdigung nach Zumutbarkeitsgesichtspunkten möglich sein. Weil zum Kündigungssachverhalt auch die für den Arbeitnehmer positiven, d.h. gegen eine außerordentliche Kündigung sprechenden Gesichtspunkte gehören und diese regelmäßig ohne eine Anhörung des Arbeitnehmers nicht hinreichend vollständig erfaßt werden können, ist es nicht zu beanstanden, wenn der Arbeitgeber die maßgebenden Tatsachen durch eine Anhörung zu klären versucht. Hört der Arbeitgeber den Arbeitnehmer an, so beginnt deshalb die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB grundsätzlich erst mit der Anhörung.
b) Diese Grundsätze gelten insbesondere, aber nicht nur, bei der Verdachtskündigung. Sie gelten deshalb auch für den Entscheidungsfall, obwohl es sich bei ihm entgegen den insoweit mißverständlichen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts nicht um eine Verdachtskündigung handelt. Ausweislich des Kündigungsschreibens vom 29. Dezember 1984 hat die Beklagte die Kündigung nicht mit dem Bestehen eines bloßen Verdachts, sondern mit der Behauptung begründet, der Kläger habe die ihm zur Last gelegten Verfehlungen begangen. Der für die Kündigungsbegründung maßgebliche Satz des Kündigungsschreibens lautet: "Die von Ihnen eingestandenen - über Jahre hinweg erfolgten - illegalen Schrottverkäufe stellen eine dermaßen schwerwiegende Verfehlung dar, daß nach Abwägen aller Umstände und Berücksichtigung Ihrer persönlichen Situation die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist."
2. Nach der angeführten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darf allerdings der Beginn der Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB auch durch die grundsätzliche Anknüpfung des Fristbeginns an die Anhörung des Arbeitnehmers nicht länger als unbedingt notwendig hinausgeschoben werden. Ebenso wie sonstige Ermittlungen des Arbeitgebers, die diesem eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts verschaffen sollen, mit der gebotenen Eile durchzuführen sind, muß deshalb auch die Anhörung des Arbeitnehmers innerhalb "kurzer Zeit" stattfinden, nachdem der Arbeitgeber den Vorgang kennt, der zur außerordentlichen Kündigung führen könnte.
Eine feste Frist, innerhalb derer die Anhörung des Arbeitnehmers vorzunehmen ist, gibt es zwar auch nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat lediglich wiederholt entschieden (vgl. insbesondere die bereits angeführten Urteile vom 6. Juli 1972 und vom 12. Februar 1973), daß die Zeitspanne, in der die Anhörung stattzufinden hat, "im allgemeinen" bzw. "regelmäßig" auf höchstens eine Woche zu bemessen sei. Diese Höchstgrenze von einer Woche ist nach der angeführten Rechtsprechung des Zweiten Senats, der sich der erkennende Senat anschließt, nur als ungefährer Anhaltspunkt, d.h. als Richtwert für solche Fälle zu verstehen, in der besondere, für eine längere Frist sprechende Gründe fehlen. Bei Vorliegen besonderer Umstände, die der Arbeitgeber darzulegen hat, darf die Frist länger sein. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat bei der seinem Urteil vom 12. Februar 1973 (aaO) zugrundeliegenden Fallgestaltung, in der die Anhörung ebenso wie im Entscheidungsfall erst nach zwölf Tagen erfolgte, ausdrücklich entscheidend darauf abgestellt, aus welchen Gründen die Anhörung erst so spät erfolgte; nur wenn hierfür kein "sachlich erheblicher" bzw. "verständiger" Grund vorgelegen haben sollte, sei die Anhörung verspätet erfolgt.
3. Will der Arbeitgeber mithin geltend machen, die Frist des § 626 Abs. 2 BGB habe erst mit einer später als eine Woche nach Kenntniserlangung durchgeführten Anhörung des Arbeitnehmers zu laufen begonnen, so muß er konkrete Gründe vortragen, aus denen sich ergibt, daß die Anhörung dennoch mit der gebotenen Eile durchgeführt wurde und insbesondere nicht innerhalb der Wochenfrist möglich war. Diesen Anforderungen hat die Beklagte nicht entsprochen.
a) Der Senat folgt zunächst der Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Beklagte habe im Entscheidungsfall den Eingang der Ermittlungsakten nicht abwarten dürfen. Das Landesarbeitsgericht hat hierzu im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe bereits seit längerer Zeit Kenntnis davon gehabt, daß gegen den Kläger und andere Bedienstete wegen des "Schrottsammelns" polizeilich ermittelt wurde. Der Leiter der Standortverwaltung P müsse sich die Kenntnis seines Vertreters zurechnen lassen; dieser habe von den Ermittlungen gegen den Kläger gewußt. Die im Fernschreiben vom 5. Dezember 1984 enthaltene Aufforderung zur Einleitung der arbeitsrechtlichen Maßnahmen habe daher die Beklagte nicht unvorbereitet getroffen. Gerade wegen des im Fernschreiben mitgeteilten Geständnisses des Klägers habe es des Eingangs der Untersuchungsakten nicht bedurft; die Beklagte habe mithin innerhalb der Wochenfrist den Kläger unabhängig vom Akteneingang befragen können.
b) Ergänzend hierzu weist der Senat lediglich darauf hin, daß die Beklagte, wenn sie schon auf das Vorliegen der Ermittlungsakten so großen Wert legt, nicht dargetan hat, welche Bemühungen sie anstellte, um diese Akten rechtzeitig zu erhalten. Sie hat weder vorgetragen, wann und in welcher Form die Akten angefordert wurden, noch hat sie dargelegt, durch wen und für welchen Zeitpunkt ihr der Akteneingang zugesagt worden sei. Insgesamt vermag deshalb auch der Senat aus den Ausführungen der Beklagten nicht zu erkennen, daß sie alle ihr zumutbaren Anstrengungen unternommen habe, die Anhörung des Klägers innerhalb innerhalb der Wochenfrist, jedenfalls aber mit der gebotenen Eile, durchzuführen.
Dr. Seidensticker Dr. Becker Dr. Steckhan
Dr. Scholz Lappe
Fundstellen
Haufe-Index 441171 |
RzK, I 6g Nr 12 (ST1) |