Entscheidungsstichwort (Thema)
Abfindungsanspruch wegen Rationalisierungsmaßnahmen
Leitsatz (amtlich)
1. Der Rationalisierungsbegriff des § 13 Abschnitt I des Manteltarifvertrags für die chemische Industrie vom 24. Juni 1992 verlangt, daß sich die betriebliche Maßnahme einer der in Ziff. 2 abschließend aufgeführten Fallgruppen zuordnen läßt und die Voraussetzungen der Ziff. 1 erfüllt sind.
2. Wenn der Arbeitgeber seinen Außendienst verkleinert, indem er einzelne Bezirke nicht mehr betreuen läßt und die verbliebenen Bezirke vergrößert, handelt es sich nach § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV um keine „organisationstechnische Umgestaltung des betrieblichen Arbeitsablaufs”.
Normenkette
Manteltarifvertrag für die chemische Industrie vom 24. Juni 1992 § 13 Abschn. I; Manteltarifvertrag für die chemische Industrie vom 24. Juni 1992 § 13 Abschn. IV; TVG § 1 Auslegung
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 21. November 1996 - 8 (12) Sa 1519/95 - wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin wegen der betriebsbedingten Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses ein tariflicher Abfindungsanspruch zusteht.
Die Beklagte und ihre Rechtsvorgängerin beschäftigten die im Jahre 1940 geborene Klägerin von 1982 bis zum 31. Dezember 1993 als Pharmaberaterin im Außendienst. Sie betreute den Bezirk Saarland und verdiente zuletzt 6.310,00 DM brutto monatlich.
Im Jahre 1993 veränderte die Beklagte die Organisation ihres Außendienstes. Sie verkleinerte ihn von 13 festangestellten Mitarbeitern auf acht Arbeitnehmer. Einige Bezirke, u.a. das von der Klägerin bereiste Gebiet, wurden überhaupt nicht mehr betreut. Die verbliebenen Bezirke wurden neu aufgeteilt und vergrößert. Die einzelnen Mitarbeiter hatten früher 1.600 und nach der Umorganisation 2.000 Ärzte zu besuchen.
Mit Schreiben vom 27. Juli 1993 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin aus betriebsbedingten Gründen zum 31. Dezember 1993. Die Klägerin erhob keine Kündigungsschutzklage. Mit Schreiben vom 20. Januar 1994 berief sie sich auf den tarifvertraglichen Rationalisierungsschutz und verlangte eine Abfindung.
Die Parteien hatten vereinbart, daß auf ihr Arbeitsverhältnis die tarifvertraglichen Bestimmungen der chemischen Industrie anzuwenden sind. § 13 des Manteltarifvertrags für die chemische Industrie vom 24. Juni 1992 (MTV) lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 13 Rationalisierungsschutz und Arbeitsplatzsicherung
I. Rationalisierungsbegriff
1. Führen betriebliche Maßnahmen, die eine rationellere Arbeitsweise bezwecken, die jedoch nicht unmittelbar durch Absatzrückgang bedingt sind (Rationalisierungsmaßnah-men) unmittelbar oder infolge einer dadurch bedingten Umsetzung zu Entgeltminderungen, Umschulungsmaßnahmen oder Entlassungen, so gelten die folgenden Bestimmungen.
2. Rationalisierungsmaßnahmen sind unter den Voraussetzungen der Ziffer 1:
- Der Einsatz von Maschinen, Anlagen oder Verfahren mit größerer technischer Leistungsfähigkeit;
- höhere Mechanisierung oder Automatisierung der bisherigen Maschinen und Anlagen;
- wesentliche Änderungen der fertigungstechnischen Arbeitsmethoden, wesentliche organisationstechnische Umgestaltungen des betrieblichen Arbeitsablaufs und die Vergabe betrieblicher Dienstleistungsarbeiten an Spe-zialunternehmen, wenn diese Maßnahmen eine Gruppe oder mehrere Gruppen von Beschäftigten betreffen;
- Stillegungen von Produktionen oder Verwaltungen in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Verlegung innerhalb des Unternehmens an einen anderen Ort.
…
IV. Abfindungen
1. Arbeitnehmer, die aufgrund einer rationalisierungsbedingten Kündigung entlassen werden, erhalten als Abfindung
nach Vollendung des 40. Lebensjahres und nach 10 Jahren Betriebszugehörigkeit einen laufenden Monatsbezug,
…”
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr stehe nach § 13 Abschnitt I und IV MTV die verlangte Abfindung zu. Die Aufgabe des Bezirks Saarland und die veränderte Aufteilung der verbliebenen Bezirke sei einheitlich zu betrachten und stelle nach § 13 Abschnitt I MTV eine Rationalisierungsmaßnahme dar. Es habe sich um eine wesentliche organisationstechnische Umgestaltung im Sinne des § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV gehandelt. Selbst wenn § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV enger auszulegen sei, ändere dies am Abfindungsanspruch nichts. § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV enthalte keine abschließende, sondern eine beispielhafte Aufzählung der Rationalisierungsmaßnahmen. Es genüge, daß die Voraussetzungen des § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV erfüllt seien. Dies sei der Fall. Der von der Beklagten angeführte Umsatzrückgang spiele keine Rolle. § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV klammere zwar die betrieblichen Maßnahmen aus, die unmittelbar durch Absatzrückgang bedingt seien. Beim Begriff der Unmittelbarkeit seien aber die Grundsätze zu beachten, die die Rechtsprechung zur Unterscheidung inner- und außerbetrieblicher Kündigungsgründe entwickelt habe. Danach fehle der erforderliche unmittelbare Zusammenhang.
Die Klägerin hat, soweit in der Revisionsinstanz von Bedeutung, beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, 6.310,00 DM nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung an sie zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Neuordnung des Außendienstes stelle keine Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des Tarifvertrages dar. § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV enthalte eine abschließende Aufzählung der Rationalisierungsmaßnahmen. Die vorliegende Umorganisation falle nicht darunter. Allein die betriebsbedingte Kündigung des Arbeitgebers stelle keine Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des § 13 MTV dar. Der Rationalisierungsschutz beschränke sich auf die Folgen des technischen Fortschritts. Die Aufgabe von Vertriebsgebieten und die Neuordnung des Außendienstes würden nicht erfaßt. Diese Maßnahmen seien auch deshalb keine Rationalisierungsmaßnahmen im Sinne des § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV, weil sie unmittelbar durch Absatzrückgang bedingt gewesen seien. Für den in § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV verwandten Begriff der Unmittelbarkeit spiele die kündigungsrechtliche Unterscheidung zwischen außer- und innerbetrieblichen Kündigungsgründen keine Rolle.
Das Arbeitsgericht hat dem noch anhängigen Klageantrag stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht ihn abgewiesen. Die Klägerin möchte mit ihrer Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erreichen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage auf Zahlung einer Abfindung im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Als Anspruchsgrundlage kommt nur § 13 Abschnitt IV des Manteltarifvertrags für die chemische Industrie vom 24. Juni 1992 (MTV) in Betracht. Die tarifvertraglichen Voraussetzungen dieses Abfindungsanspruchs sind nicht erfüllt.
I. Nach § 13 Abschnitt IV MTV erhalten nur die Arbeitnehmer eine Abfindung, die aufgrund einer rationalisierungsbedingten Kündigung entlassen wurden. Rationalisierungsbedingt ist eine Kündigung, wenn sie auf einer Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des § 13 Abschnitt I MTV beruht. § 13 Abschnitt I MTV enthält einen eigenständigen Rationalisierungsbegriff. Die betriebliche Maßnahme muß sich einer der in § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV aufgeführten Fallgruppen zuordnen lassen und die Voraussetzungen des § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV erfüllen. Die vorliegende Neuordnung des Außendienstes war schon deshalb keine Rationalisierungsmaßnahme im tarifvertraglichen Sinne, weil sie nicht unter § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV fällt.
1. § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV enthält entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts eine abschließende Aufzählung der betrieblichen Maßnahmen, die eine Rationalisierung im tarifvertraglichen Sinne darstellen können. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut und der Systematik des § 13 MTV.
a) Die für eine beispielhafte Aufzählung üblichen Formulierungen („z.B.”, „ins-besondere”, „u.a.”, „vor allem”) fehlen in § 13 Abschnitt I Nr. 2 MTV. Ausreichende Anhaltspunkte für ein Versehen der Tarifvertragsparteien gibt es nicht.
b) Die Tarifvertragsparteien haben die abstrakten Merkmale, die alle Rationalisierungsmaßnahmen erfüllen müssen, in § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV vor die Klammer gezogen und anschließend die in Betracht kommenden Maßnahmen in einem abschließenden Katalog konkretisiert. Diese Regelungstechnik ist nicht unüblich. Die Präzisierung durch den abschließenden Maßnahmenkatalog erhöht die Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Die Verknüpfung mit den allgemeinen Tatbestandsmerkmalen („unter den Voraussetzungen der Ziff. 1”) gewährleistet eine zusätzliche einzelfallbezogene Überprüfung und verhindert eine der tarifvertraglichen Zielsetzung widersprechende Ausdehnung des Rationalisierungsbegriffs. Unerheblich ist es, daß dieses Korrektiv bei technischen Maßnahmen erheblich seltener zum Zuge kommt als bei betriebsorganisatorischen.
c) Der Inhalt des Maßnahmenkatalogs in § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV spricht nicht für, sondern gegen eine beispielhafte Aufzählung.
aa) Das Argument des Landesarbeitsgerichts, § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV umfasse nicht nur technische Änderungen, sondern auch rein betriebsorganisatorische Maßnahmen, ist nicht überzeugend. Der weite Anwendungsbereich des § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV steht im Einklang mit § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV. Der in § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV verwandte Begriff der „rationelleren Arbeitsweise” beschränkt sich nicht auf den technischen Fortschritt. Dementsprechend mußte in § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV auch der Bereich der Betriebsorganisation angesprochen werden.
bb) Die Präzisierungen in § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV enthalten einschränkende Tatbestandsmerkmale. Beispielsweise ist die Vergabe betrieblicher Dienstleistungen an Spezialunternehmen dann eine Rationalisierungsmaßnahme, wenn sie eine „Gruppe oder mehrere Gruppen von Beschäftigten” betrifft. Die Stillegung von Produktionen oder Verwaltungen wird erfaßt, wenn sie „in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Verlegung innerhalb des Unternehmens an einen anderen Ort” steht. Diese Einschränkungen wären wenig sinnvoll, wenn ohnehin stets auf § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV zurückgegriffen werden könnte.
2. Der abschließende Maßnahmenkatalog des § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV umfaßt nicht die vorliegende Umgestaltung des Außendienstes.
a) Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht die Umgestaltung des Außendienstes nicht in die Aufgabe einzelner Bezirke und die Neuordnung der verbliebenen Bezirke aufgespalten, sondern als einheitliche Maßnahme angesehen. Sie läßt sich jedoch keiner der in § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV aufgeführten Maßnahmen zuordnen.
b) Ob die räumliche Einschränkung der Außendiensttätigkeit als teilweise „Stillegung einer Verwaltung” zu betrachten ist, kann offenbleiben. Jedenfalls fehlt die nach § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV erforderliche Aufgabenverlagerung innerhalb des Unternehmens.
c) Die Neuordnung des Außendienstes stellt keine „wesentliche organisationstechnische Umgestaltung des betrieblichen Arbeitsablaufs” dar. Eine weitere Fallgruppe des § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV kommt nicht in Betracht.
aa) § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV erfaßt nicht alle, sondern nur bestimmte organisatorische Maßnahmen. Es genügt nicht jede organisatorische Umgestaltung. Nach § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV muß es sich um eine „organisationstechnische” Maßnahme handeln. Der Ausdruck „technisch” bezieht sich nicht allein auf die Arbeitsmittel, sondern ist in einem weiteren Sinne zu verstehen. Eine genaue Definition ist im vorliegenden Fall nicht erforderlich, weil sich die organisationstechnische Umgestaltung auf den betrieblichen „Arbeitsablauf” beziehen muß und diese Voraussetzung nicht erfüllt ist.
bb) Zutreffend weist der Bundesverband der chemischen Industrie in seinen „Erläuterungen zu den manteltariflichen Regelungen über Rationalisierungsschutz und Arbeitsplatzsicherung” vom 28. April 1975 darauf hin, daß bestehende Arbeitsabläufe umgestaltet werden müßten. Es genüge nicht, daß sie aufgehoben würden. Die organisationstechnische Umgestaltung von Arbeitsabläufen sei von der Unternehmensorganisation zu unterscheiden, die nicht erfaßt werde.
Der Begriff des Arbeitsablaufs wird auch in § 81 Abs. 1 Satz 1, § 82 Abs. 1 Satz 2, § 90 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG verwandt. Im Betriebsverfassungsrecht ist unter Arbeitsablauf die Umgestaltung des Arbeitsprozesses zu verstehen. Damit ist das Geschehen bei der Erfüllung der Arbeitsaufgaben gemeint (vgl. u.a. Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG, 19. Aufl., § 90 Rz 32 und 33; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 5. Aufl., § 90 Rz 7; Wiese in GK-BetrVG, 6. Aufl., § 90 Rz 17). In § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV ist der Begriff „Arbeitsablauf” jedenfalls nicht weiter zu verstehen als im Betriebsverfassungsrecht. Bei der Auslegung des § 13 Abschnitt I Ziff. 2 MTV sind die in § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV aufgeführten allgemeinen Tatbestandsmerkmale einer Rationalisierungsmaßnahme zu berücksichtigen. Nach § 13 Abschnitt I Ziff. 1 MTV muß die betriebliche Maßnahme eine rationellere „Arbeitsweise” bezwecken. Weder die Aufgabe einzelner Außendienstbezirke noch die Neueinteilung und Vergrößerung der verbliebenen Bezirke verändern für sich allein „Arbeitsweise” und „Arbeitsablauf”. Die bloße Erhöhung des Arbeitsvolumens stellt noch keine Rationalisierung im Sinne des § 13 Abschnitt I MTV dar.
3. Da bereits aus diesen Gründen keine Rationalisierungsmaßnahme vorliegt, kommt es nicht darauf an, unter welchen Voraussetzungen betriebliche Maßnahmen „unmittelbar” durch Absatzrückgang bedingt sind.
II. Die Klägerin hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen.
Unterschriften
Kremhelmer, Bepler, Schmidt, Horst Schmitthenner, Der ehrenamtliche Richter Weinmann ist ausgeschieden und deshalb an der Unterschrift verhindert. Kremhelmer
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 26.05.1998 durch Kaufhold, Reg.-Sekretärin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
BB 1999, 164 |
DB 1999, 153 |
FA 1999, 134 |
FA 1999, 34 |
NZA 1999, 210 |
RdA 1999, 291 |
SAE 1999, 116 |
AP, 0 |
AuA 1999, 238 |