Entscheidungsstichwort (Thema)
Ordentliche Kündigung eines tariflich unkündbaren Arbeitnehmers
Leitsatz (amtlich)
Will der Arbeitgeber von dem besonderen Kündigungsschutz eines nach § 2 Ziff. 1 TV zur Sicherung älterer Arbeitnehmer für die gewerblichen Arbeitnehmer der Nord-Westdeutschen Textilindustrie vom 23.05.1994 unkündbaren Arbeiters abweichen, so muss er dies dem Betriebsrat gegenüber zu erkennen geben. § 2 Ziff. 2 TVG Sicherung lässt zwar eine ordentliche Kündigung eines tariflich unkündbaren älteren Arbeiters zu, wenn der Betriebsrat nicht widerspricht. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen Widerspruch im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG. Dem erhöhten Kündigungsschutz eines tariflich unkündbaren Arbeitnehmers wird nur dann Rechnung getragen, wenn der Arbeitgeber die Kündigung des Arbeitnehmers nicht wie jede andere ordentliche Kündigung behandelt und das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG ohne Hinweis darauf durchführt, dass er aus sachlichen Gründen vom besonderen Kündigungsschutz abzuweichen beabsichtigt.
Auch wenn der Arbeitgeber im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG nicht auf den besonderen Kündigungsschutz des betroffenen älteren Arbeitnehmers hingewiesen hat, so sind die tariflichen Voraussetzungen dennoch gewahrt, wenn aufgrund eines Widerspruchs des Betriebsrates, in dem dieser auf den besonderen Kündigungsschutz des Arbeitnehmers nach dem Tarifvertrag hingewiesen hat, das im Tarifvertrag vorgesehene Verfahren in Gang gesetzt worden ist. Soweit im Tarifvertrag bestimmt ist, dass dann, wenn die Einigungsbemühungen der Betriebsparteien bzw. Tarifparteien erfolglos bleiben, der Rechtsweg offen steht, ist damit kein besonderes gerichtliches Verfahren gemeint, das vor Ausspruch der Kündigung durchlaufen werden müsste. Nach Ausschöpfung des tariflichen Verfahrens steht vielmehr einer gerichtlichen Überprüfung der nunmehr zulässigen Kündigung nichts mehr entgegen.
Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 2 Ziff. 2 b TV Soziale Sicherung, wonach „in anderen sachlich begründeten Fällen” vom besonderen Kündigungsschutz des Arbeitnehmers abgewichen werden kann, sind dann erfüllt, wenn die Kündigung gesteigerten Anforderungen an ihre soziale Rechtfertigung genügt. Bei einer krankheitsbedingten Kündigung ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn der Arbeitgeber in der Vergangenheit ärztlichen Arbeitsplatzwechselempfehlungen gefolgt ist, in der Folgezeit jedoch weiterhin den Arbeitgeber unzumutbar belastende Fehlzeiten des Arbeitnehmers aufgetreten sind.
Die tariflichen Kündigungsfristen des § 12 Nr. 1 des Manteltarifvertrages für gewerbliche Arbeitnehmer der Textilindustrie Westfalen-Osnabrück vom 09.05.1985 sind im Hinblick auf die längeren tariflichen Kündigungsfristen für Angestellte mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, da die bei längerer Betriebszugehörigkeit in gleichen Maße erbrachte Betriebstreue der Arbeiter zumindest gleiche Stufen der Wartezeit aufgrund abgeleisteter Betriebszugehörigkeit wie bei den Angestellten erfordert.
Normenkette
KSchG § 1; TV zur Sicherung älterer Arbeitnehmer für die gewerblichen Arbeitnehmer der Nordwestdeutschen Textilindustrie § 2
Verfahrensgang
ArbG Rheine (Entscheidung vom 30.08.2000; Aktenzeichen 2 Ca 587/00) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers – unter Zurückweisung seiner weitergehenden Berufung und unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten – wird das Urteil des Arbeitsgerichts Rheine vom 30.08.2000 – 2 Ca 587/00 – teilweise abgeändert und wie folgt gefasst.
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 26.04.2000 nicht aufgelöst worden ist, sondern aufgrund der Kündigung vom 10.11.2000 am 31.05.2001 beendet worden ist.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit zweier ordentlicher, aus krankheitsbedingten Gründen ausgesprochener Kündigungen des Arbeitsverhältnisses durch die Beklagte, um einen allgemeinen Feststellungsantrag sowie um den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung.
Der am 13.04.1939 geborene Kläger ist bei der Beklagten, in einem Betrieb der Textilindustrie, seit dem 15.10.1985 zuletzt als Spinnereiarbeiter beschäftigt. Er erhielt einen Stundenlohn von 19,87 DM brutto bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 37 Stunden. Der Kläger ist verheiratet und hat vier Kinder, von denen eines unter 18 Jahren ist.
Auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge für die gewerblichen Arbeitnehmer der Nord-Westdeutschen Textilindustrie Anwendung, unter ihnen der Tarifvertrag zur Sicherung älterer Arbeitnehmer vom 23.05.1974. Dieser bestimmt in § 2:
„Kündigungsschutz
1. Einem gewerblichen Arbeitnehmer kann nach Vollendung des 55. Lebensjahres und einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit von mindestens zehn Jahren bis zu Bewilligung des Alter...