Entscheidungsstichwort (Thema)
Berechnung des tariflichen Krankengeldzuschusses
Leitsatz (redaktionell)
Tarifliche Krankenzuschüsse sind auf der Basis des Bruttokrankengeldes zu berechnen, es sei denn, aus dem Tarifvertrag ergibt sich etwas anderes (Weiterentwicklung von BAT Urteil vom 10.12.1986 5 AZR 517/85 BAGE 54, 30 = AP Nr 1 zu § 42 MTB II).
Orientierungssatz
Auslegung des § 21 des Manteltarifvertrages Nr 7 für die Arbeitnehmer der KLM, Royal Dutch Airlines vom 21.4.1986.
Normenkette
TVG § 1; SGB V §§ 47-48
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Entscheidung vom 22.06.1994; Aktenzeichen 1 Sa 957/93) |
ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 16.06.1993; Aktenzeichen 7 Ca 1325/93) |
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengeldzuschusses.
Der Kläger ist seit dem 1. Juli 1969 bei der Beklagten als Angestellter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft ausdrücklicher Vereinbarung die von der ÖTV und der Beklagten, einem Luftfahrtunternehmen, geschlossenen Tarifverträge Anwendung. In § 21 des Manteltarifvertrages Nr. 7 vom 21. April 1986, gültig ab 1. April 1986 (im folgenden: MTV 1986), heißt es u.a.:
"§ 21
Krankenbezüge
(1) Im Krankheitsfalle oder bei Unfällen wird
das Entgelt für die Dauer von 6 Kalenderwo-
chen weitergezahlt. Der Berechnung wird das
Grundgehalt einschließlich eventueller Kin-
derzulagen des laufenden Monats zuzüglich
der durchschnittlichen Schichtzulage und
Überstundenvergütung der letzten drei Ka-
lendermonate zugrunde gelegt.
...
(2) Dauert die Arbeitsunfähigkeit eines Arbeit-
nehmers länger als 6 Wochen, so wird ein
Krankengeldzuschuß bis zu 100 % des Netto-
gehaltes gezahlt. Nettogehalt ist das um
Lohn-/Kirchensteuer sowie gesetzliche Sozi-
alabgaben verringerte Arbeitseinkommen nach
Ziffer 1.
Der Krankengeldzuschuß wird gewährt nach
einer Dienstzeit
von mindestens einem halben Jahr
von der 7. bis einschließlich 12. Woche,
von mindestens 3 Jahren
von der 7. bis einschließlich 18. Woche,
von mindestens 5 Jahren
von der 7. bis einschließlich 22. Woche,
von mindestens 8 Jahren
von der 7. bis einschließlich 38. Woche,
von mindestens 10 Jahren
von der 7. bis einschließlich 52. Woche,
bei einem von der zuständigen Berufsgenos-
senschaft anerkannten Betriebsunfall ohne
Rücksicht auf die Dienstzeit
von der 7. bis einschließlich 52. Woche.
Ausgangsbasis für die Errechnung des Zu-
schusses stellt immer das Krankengeld
(nicht Haus- oder Taschengeld) dar, dessen
Höhe gegebenenfalls bei der Krankenkasse zu
erfragen ist. Ist ein Arbeitnehmer wegen
Überschreitung der Gehaltsgrenze nicht mehr
in der gesetzlichen Krankenversicherung
pflichtversichert, und hat er sich auch
nicht freiwillig weiterversichert, so wird
als Ausgangsbasis ein Krankengeld angenom-
men, das ihm zustünde, wenn er sich frei-
willig weiterversichert hätte. Die Zahlung
derartiger Zuwendungen kann nur einmal im
Kalenderjahr erfolgen.
..."
Eine wortgleiche Bestimmung enthielt bereits der vorangegangene Manteltarifvertrag aus dem Jahr 1969.
Der Kläger war von November 1991 bis August 1992 infolge Krankheit arbeitsunfähig. Die Beklagte zahlte ihm zunächst für die Dauer von sechs Wochen die Vergütung in voller Höhe weiter. Für die Zeit danach gewährte ihm die Krankenkasse Krankengeld. Die Beklagte zahlte einen Krankengeldzuschuß.
Nach den - durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl. S. 1532) eingeführten - ab 1. Januar 1984 geltenden sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 112 b Abs. 1 AVG, ab 1. Januar 1992: § 3 Nr. 3, § 170 Abs. 1 Nr. 2 a SGB VI; § 186 Abs. 1 AFG) unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Dementsprechend erhielt der Kläger nur das um die Arbeitnehmeranteile geminderte Krankengeld ("Nettokrankengeld") ausbezahlt. Die Beklagte zahlte als Krankengeldzuschuß nur die Differenz zwischen dem Nettogehalt und dem ungekürzten Krankengeld ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielt der Kläger für die Zeit des Bezuges von Krankengeld und Krankengeldzuschuß insgesamt 3.073,07 DM weniger, als er während dieser Zeit an Nettogehalt erzielt hätte.
Mit seiner Klage macht er diesen Betrag geltend. Er hat vorgetragen: § 21 MTV gebe dem Arbeitnehmer einen Anspruch auf die Differenz zwischen Nettogehalt und Nettokrankengeld. Daher müsse ihm die Beklagte die Differenz zwischen Brutto- und Nettokrankengeld nachzahlen. Nur diese Auslegung werde dem Sinn der Tarifbestimmung gerecht. Dieser bestehe darin, den Arbeitnehmer während einer längeren Krankheit die bisherige Vergütung in voller Höhe zu sichern. Bei Abschluß des MTV 1986 sei den Tarifvertragsparteien die ab 1984 bestehende Beitragspflicht des Krankengeldes zur Renten- und Arbeitslosenversicherung bekannt gewesen. Sie hätten gleichwohl bewußt den Wortlaut der Tarifvorschrift über den Krankengeldzuschuß beibehalten. Daraus ergebe sich zwangsläufig eine erhöhte Belastung für den Arbeitgeber.
Der Kläger hat vor dem Arbeitsgericht beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.073,07 DM
netto nebst 4 % Zinsen seit dem 3. März 1993 zu
zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Nach § 21 MTV 1986 schulde sie nur den Unterschiedsbetrag zwischen Nettogehalt und Bruttokrankengeld. Eine andere Auslegung widerspreche dem Wortlaut der Tarifvertragsbestimmung. Schuldner der von dem Krankengeld zu entrichtenden Sozialversicherungsabgaben sei der Kläger als Bezieher der Leistung. Diese Last werde durch den Tarifvertrag nicht auf die Arbeitgeberin übertragen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Zur Abwendung der Zwangsvollstreckung zahlte die Beklagte den ausgeurteilten Betrag. In der Berufungsinstanz hat die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter verfolgt und im Wege der Widerklage die Rückzahlung des aufgrund des Urteils erster Instanz gezahlten Betrages gefordert. Sie hat insoweit beantragt,
den Kläger zu verurteilen, an die Beklagte
3.139,31 DM mit 4 % Zinsen seit dem 20. September
1993 zu zahlen.
Der Kläger hat beantragt, die Widerklage abzuweisen. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat richtig entschieden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung eines restlichen Krankengeldzuschusses aus § 21 MTV 1986, der allein als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt. Er hat daher den ihm von der Beklagten zur Abwendung der Zwangsvollstreckung gezahlten Betrag zurückzuerstatten.
Nach § 21 MTV 1986 schuldet die Beklagte in Fällen längerer Arbeitsunfähigkeit für einen von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängigen Zeitraum die Differenz zwischen "100 % des Nettogehaltes" und dem Krankengeld, das die "Ausgangsbasis für die Errechnung des Zuschusses" darstellen soll.
Das Nettogehalt wird in § 21 Abs. 2 Satz 2 MTV 1986 definiert als "das um Lohn-/Kirchensteuer sowie gesetzliche Sozialabgaben verringerte Arbeitseinkommen nach Ziffer 1". Dagegen sagt der Tarifvertrag nicht ausdrücklich, was unter Krankengeld zu verstehen sein soll; er grenzt diesen Begriff nur negativ vom "Haus- oder Taschengeld" ab. Die Auslegung ergibt, daß unter Krankengeld im Sinne dieser Vorschrift das Bruttokrankengeld zu verstehen ist. Die Beklagte schuldet also jeweils nur die Differenz zwischen Bruttokrankengeld und Nettogehalt.
1. Die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen folgt den für die Gesetzesauslegung geltenden Regeln. Sie hat zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Dabei ist jedoch über den reinen Wortlaut hinaus der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnormen mit zu berücksichtigen, sofern und soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Ferner ist auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen. Bleiben bei entsprechender Auswertung des Tarifwortlauts und des tariflichen Gesamtzusammenhangs als den stets und in erster Linie heranzuziehenden Auslegungskriterien im Einzelfall noch Zweifel, so können die Gerichte ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Kriterien wie die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages zurückgreifen (BAG Urteil vom 12. September 1984 - 4 AZR 336/82 - BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung). Weiter ist folgender allgemeiner Auslegungsgrundsatz zu beachten: Verwenden die Tarifvertragsparteien in einem Tarifvertrag einen Begriff, der in der Rechtsterminologie eine bestimmte Bedeutung hat, so ist davon auszugehen, daß er im Tarifvertrag dieselbe Bedeutung haben soll, soweit sich nicht aus dem Tarifvertrag selbst etwas anderes ergibt (BAG Urteil vom 30. Mai 1984 - 4 AZR 512/81 - BAGE 46, 61, 66 = AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969).
Da es sich beim Krankengeld um einen sozialversicherungsrechtlichen Begriff handelt und der tarifliche Krankengeldzuschuß das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 48 SGB V) ergänzen soll, ist auch der im Tarifvertrag verwendete Begriff des Krankengeldes im sozialversicherungsrechtlichen Sinne zu verstehen (Senatsurteil vom 10. Dezember 1986 - 5 AZR 517/85 - BAGE 54, 30 = AP Nr. 1 zu § 42 MTB II).
2. In seinen Urteilen vom 10. Dezember 1986 (- 5 AZR 517/95 - BAGE 54, 30 = AP Nr. 1 zu § 42 MTB II; - 5 AZR 307/85 -, n.v.), vom 14. Januar 1987 (- 5 AZR 38/85, 338/85, 346/85, 525/85 -, alle n.v.) und vom 6. Mai 1987 (- 5 AZR 317/85 -, n.v.) hat der Senat zu Tarifverträgen aus der Zeit vor Einführung der Beitragspflicht des Krankengeldes zur Renten- und Arbeitslosenversicherung (1. Januar 1984) ausgeführt, die Tarifvertragsparteien hätten zwar mit geringfügigen Änderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet, nicht aber mit grundlegenden Änderungen wie der Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für die Renten- und Arbeitslosenversicherung. Es sei daher seit dem 1. Januar 1984 eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Diese Lücke könnten die Gerichte jedoch nicht im Wege der ergänzenden Auslegung schließen, weil die Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten hätten und sie sich aufgrund ihrer Tarifautonomie für eine davon entscheiden müßten. Dem dürften die Gerichte nicht vorgreifen. Der Senat hat daher die Klagen auf Zahlung der Differenz zwischen Brutto- und Nettokrankengeld als zur Zeit unbegründet abgewiesen.
3. Der Streitfall liegt anders. Der vorliegende Tarifvertrag wurde am 21. April 1986 und damit mehr als zwei Jahre nach der Einführung der Beitragspflicht des Krankengeldes (1. Januar 1984) abgeschlossen.
Der in ihm verwandte Begriff des Krankengeldes kann nunmehr - wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausführt - nur im Sinne des geänderten Sozialversicherungsrechts verstanden werden. Das Krankengeld wurde zwar - wie dargestellt - mit Arbeitnehmeranteilen zur Renten- und Arbeitslosenversicherung belastet. Doch blieben die Vorschriften über die Höhe und Berechnung des Krankengeldes im wesentlichen unverändert. Nach § 47 Abs. 1 SGB V (bis zum 31. Dezember 1988 § 182 Abs. 4 RVO) beträgt "das Krankengeld ... 80 v.H. des ... regelmäßigen Arbeitsentgelts und Arbeitseinkommens ..."; es darf das "Nettoarbeitsentgelt nicht übersteigen". Das ist das volle, nicht um die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung geminderte Krankengeld, also das "Bruttokrankengeld". An keiner Stelle bezeichnet das Gesetz den dem Arbeitnehmer zufließenden Auszahlungsbetrag als Krankengeld.
4. Sinn und Zweck der tariflichen Regelung gebieten entgegen der Auffassung der Revision keine andere Auslegung.
Bis 1983 wurde das Krankengeld dem Arbeitnehmer i.d.R. ohne Abzüge ausbezahlt. Der erkennbare soziale Zweck der inhaltsgleichen Vorschriften des vorangegangenen Manteltarifvertrages bestand darin, den arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer auch nach Ablauf des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums für eine bestimmte Zeit finanziell so zu stellen, als ob er weiter arbeiten oder weiter Entgeltfortzahlung erhalten würde. Die durch die Krankheit entstehenden wirtschaftlichen Nachteile sollten ausgeglichen werden. Allerdings wurde dieser Zweck auch vor 1984 nicht immer vollständig erreicht, da der Zuschuß zum Krankengeld anders als das Krankengeld einkommensteuerpflichtig ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 LStDVO, § 3 Nr. 1 a EStG) und die Steuer vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist.
Angesichts der Einführung der Beitragspflicht des Krankengeldes zur Renten- und Arbeitslosenversicherung hätte es nahegelegen, daß die Tarifvertragsparteien in ihrem 1986 neu abgeschlossenen Manteltarifvertrag klargestellt hätten, wie der Krankengeldzuschuß zu berechnen ist, als Differenz zwischen Bruttokrankengeld und Nettoarbeitsentgelt oder als Differenz zwischen Nettokrankengeld und Nettoarbeitsentgelt. Das haben sie versäumt. Aus welchen Gründen dies geschah, ist unerheblich. Es kommt also nicht darauf an, ob die Tarifvertragsparteien bei Abschluß des Manteltarifvertrages 1986 die mit Wirkung ab 1. Januar 1984 geänderten sozialrechtlichen Vorschriften kannten oder nicht.
Ohne eine ausdrückliche Regelung kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien die wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers um die Differenz von Brutto- und Nettokrankengeld erhöhen und damit die laut Gesetz vom Arbeitnehmer zu tragenden Beitragsanteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung dem Arbeitgeber auferlegen wollten. Daher ist der Krankengeldzuschuß so zu berechnen wie vor Einführung der Beitragspflicht des Krankengeldes, nämlich als Differenz zwischen dem Krankengeld im Sinne des Krankenversicherungsrechts (§ 47 Abs. 1 SGB V) und dem Nettogehalt.
Der Sinn und Zweck der tariflichen Zuschußregeln besteht nun nicht mehr in einem Ausgleich, sondern nur noch in einer Minderung der dem kranken Arbeitnehmer entstehenden wirtschaftlichen Nachteile.
Griebeling Schliemann Reinecke
Krogmann Kessel
Fundstellen
BB 1996, 1844 (L1) |
DB 1997, 880-881 (LT1) |
EEK, I/1182 (ST1) |
NZA 1997, 213 |
NZA 1997, 213-214 (LT1) |
RdA 1996, 237 (L1) |
ZTR 1996, 468 (LT1) |
AP § 4 EntgeltFG (L1), Nr 4 |
AP § 616 BGB (LT1), Nr 96 |
AP, 0 |
ArbuR 1996, 375 (L1) |
ErsK 1996, 390 (KT) |
EzA § 47 SGB V, Nr 1 (LT1) |
EzBAT § 37 BAT Krankengeldzuschuß, Nr 1 (LT1) |