Entscheidungsstichwort (Thema)
Streik bei Bundespost. Wiedereinsetzung
Leitsatz (redaktionell)
Hinweis auf Beschluß vom 29. Juli 1992 – 2 AZB 21/92 – EzA § 133 ZPO Nr. 15
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Urteil vom 07.07.1992; Aktenzeichen 16 Sa 671/92) |
ArbG Essen (Urteil vom 19.03.1992; Aktenzeichen 3 Ca 254/92) |
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 7. Juli 1992 – 16 Sa 671/92 – aufgehoben.
2. Der Beklagten wird wegen Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt; sie hat insoweit die Kosten zu tragen.
3. Die Sache wird im übrigen zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten um Vergütungsansprüche und Provisionsrückzahlungen. In der Berufungs- und Revisionsinstanz war zunächst zu beurteilen, ob die Berufung zulässig ist.
Der Kläger trat am 1. Juni 1990 in die Dienste der Firma OMNIA Finanzdienstleistungen- Beratungs- und Betreuungsgesellschaft mbH. Als Vergütung erhielt er ein Grundgehalt von monatlich 4.500,00 DM brutto, außerdem 1.500,00 DM brutto monatlich, welche in den Gehaltsabrechnungen als „Provisionsvorschuß” bezeichnet wurden. Mit Wirkung ab 1. Juli 1991 war der Kläger für die Beklagte tätig. Seitdem erhielt er bis einschließlich November 1991 nur noch 4.500,00 DM brutto monatlich. Mit seiner Klage hat der Kläger entsprechend seiner Auffassung, sein Arbeitsverhältnis mit der Firma OMNIA GmbH sei auf die Beklagte ab 1. Juli 1991 übergegangen, für die Monate Dezember 1991 und Januar 1992 je 4.500,00 DM brutto sowie die Hälfte eines 13. Monatsgehaltes für das Jahr 1991 in Höhe von 2.250,00 DM brutto nebst entsprechenden Zinsen verlangt. Die Beklagte hat widerklagend aus von der Firma OMNIA abgetretenem Recht Provisionsvorschüsse in Höhe von 22.790,62 DM nebst Zinsen vom Kläger gefordert. Das Arbeitsgericht hat der Klage entsprochen und die Widerklage abgewiesen.
Das am 19. März 1992 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts ist der Beklagten am 8. April 1992 zugestellt worden. Mit Schriftsatz ihres Prozeßbevollmächtigten vom 4. Mai 1992, als Briefsendung zur Post gegeben beim Hauptpostamt Essen am Montag, dem 4. Mai 1992 gegen 18.00 Uhr, legte die Beklagte Berufung ein. Die Berufungsschrift ging am darauffolgenden Montag, dem 11. Mai 1992, bei dem Landesarbeitsgericht ein. In der Zeit vom 25./26. April 1992 bis zum 8. Mai 1992 fanden bundesweit gewerkschaftlich organisierte Streiks im öffentlichen Dienst statt, von denen auch der Postbetrieb und der Briefbeförderungsdienst betroffen waren. Mit Telefaxschreiben vom 19. Mai 1992, beim Landesarbeitsgericht eingegangen am 25. Mai 1992, hat die Beklagte Wiedereinsetzung in vorigen Stand beantragt und hierzu geltend gemacht:
Im Hinblick auf die Aufgabe der Berufungsschrift zur Post am Montag, dem 4. Mai 1992, liege kein Verschulden für die Versäumung der am Freitag, dem 8. Mai 1992, abgelaufenen Berufungsfrist vor. Die Aufgabe zur Post am 4. Mai 1992 sei so rechtzeitig erfolgt, daß die Berufungsschrift fristgerecht bis zum 8. Mai 1992 in den Empfangsbereich des Berufungsgerichts hätte gelangen müssen. Den streikbedingten Verzögerungen bei der Postzustellung sei mit der Aufgabe der Berufungsschrift am 4. Mai 1992 ausreichend Rechnung getragen worden. Eine Verzögerung der Zustellung, die ausschließlich im Tätigkeitsbereich der Post ihre Ursache finde, sei der Beklagten als Postbenutzerin nicht zuzurechnen.
Die Beklagte hat zuletzt beantragt,
das am 19. März 1992 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Essen – 3 Ca 254/92 – abzuändern und
- die Klage abzuweisen;
- den Kläger zu verurteilen, an sie 22.790,62 DM nebst 13,5 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Kläger hat beantragt, die Berufung der Beklagten als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen. Er ist der Ansicht, die Berufung sei unzulässig. Es fehle an ausreichenden Gründen für eine Wiedereinsetzung.
Das Landesarbeitsgericht hat durch Urteil den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die durch das Landesarbeitsgericht zugelassene Revision der Beklagten, mit der sie ihre zweitinstanzlichen Anträge weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe
1. Die Revision ist zulässig und begründet. Die Beklagte hat zwar die einmonatige Berufungsfrist versäumt. Diese ist mit Zustellung des in vollständiger Form abgefaßten Urteils (§ 50 Abs. 1 ArbGG) am 8. April 1992 in Lauf gesetzt worden und am Freitag, dem 8. Mai 1992, abgelaufen. Die Berufung ist erst am 11. Mai 1992 und damit verspätet beim Berufungsgericht eingegangen (§ 66 Abs. 1 Satz 1, § 64 Abs. 6 ArbGG; § 516 ZPO).
2. Auf den form- und fristgerecht gestellten Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten ist ihr jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Beklagte war ohne ihr Verschulden oder ein Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten verhindert, die Berufungsfrist einzuhalten (§§ 233, 85 Abs. 2 ZPO).
a) Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen. Für die Beförderung von Briefen hat die Deutsche Bundespost das gesetzliche Monopol. Der Bürger kann darauf vertrauen, daß die von dieser nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf das dem Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zu Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 53, 25, 29 = AP Nr. 74 zu § 233 ZPO, zu IV der Gründe; BVerfGE 62, 216, 221 = NJW 1983, 560; BVerfG Beschluß vom 27. Februar 1992 – 1 BvR 1294/91 – NJW 1992, 1952 = EzA § 233 ZPO Nr. 14). Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post, etwa vor Feiertagen, oder auf einer verminderten Dienstleistung der Post, etwa an Wochenenden, beruht, sind unzulässig. Von Verfassungs wegen ist es erforderlich, alle Fälle, in denen sich der Bürger zur Durchsetzung seines Rechts den Diensten der Deutschen Bundespost anvertraut, gleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 54, 80, 84 m.w.N.; BVerfG Beschluß vom 27. Februar 1992, a.a.O.; BAG Beschluß vom 29. Juli 1992 – 2 AZB 21/92 – EzA § 233 ZPO Nr. 15, zu 2 a der Gründe). Dies gilt auch für die Fälle des Poststreiks (vgl. BAG Beschluß vom 29. Juli 1992, a.a.O., zu 2 der Gründe; BVerwG Beschluß vom 11. August 1992 – 8 B 66/92 – nicht veröffentlicht).
b) Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts, an die der Senat gemäß § 561 Abs. 2 ZPO mangels entsprechender Rügen der Revision gebunden ist, fanden nach bereits vorangegangenen Streikandrohungen und Warnstreiks die Urabstimmungen der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst einschließlich Bahn und Post in der Zeit vom 22.–24. April 1992 statt. Am 24./25. April 1992 erfolgte die Bekanntgabe der Ergebnisse der Urabstimmung. Am 25./26. April 1992 (Samstag/Sonntag) begannen die ersten Streiks. Ab dem 27. April 1992 (Montag) erfolgten deren Ausweitungen. Gegenstand der Kundgebungen am 1. Mai waren u.a. die Streiks im öffentlichen Dienst. Am 7. Mai 1992 war das erste Treffen der Tarifpartner nach Streikbeginn. Am 8. Mai 1992 wurden die Streiks bis zur Urabstimmung am 11.–13. Mai 1992 ausgesetzt.
Sowohl der Kläger als auch die Beklagte und auch die Vorinstanz stimmen darin überein, daß die außergewöhnliche Verzögerung der Postzustellung auf die erwähnten Streikmaßnahmen zurückzuführen ist.
Die Ursache für die Verzögerung des Briefs, der am 4. Mai 1992 beim Hauptpostamt Essen eingeworfen wurde, liegt also im Bereich der Organisation der Post, für die ihrerseits streikbedingte Bearbeitungsverzögerungen auf dem Streik beruhten. Diese Umstände können der Beklagten bzw. ihren Prozeßbevollmächtigten nicht zugerechnet werden. Sie hatten keinen Einfluß darauf, ob der frühzeitig vor Fristablauf zur Post gegebene Brief mit der Berufungsschrift postalisch rechtzeitig bearbeitet wurde oder nicht; sie wußten auch nicht, ob trotz des Streiks z.B. durch Beamte für eine Briefbeförderung gesorgt war oder ob überhaupt das betreffende Postamt bestreikt wurde. Unsicherheiten in diesem Bereich dem Absender anzulasten, verbietet sich jedenfalls angesichts der Monopolstellung der Post, ohne daß der Absender auf andere Ausweichmöglichkeiten (z.B. Telefax) verwiesen werden darf. Da der Brief unstreitig vier Tage vor Fristablauf zur Post gegeben wurde, braucht sich die Beklagte die außergewöhnliche Postverzögerung nicht als Verschulden anrechnen zu lassen.
Unterschriften
Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Olderog, Werner, Dr. Schlemmer
Fundstellen