Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 18.07.1991) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Juli 1991 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen Folgen einer Berufskrankheit (BK) sind und ihr deshalb Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH zusteht.
Die im Jahre 1950 geborene Klägerin war vom 1. Oktober 1968 bis 30. September 1971 als Krankenpflegeschülerin am Krankenhaus – Diakonissenheim – in B. … in verschiedenen Abteilungen tätig. In der Folgezeit arbeitete sie bis zum 30. Juni 1980 als Krankenschwester an verschiedenen Krankenhäusern, und zwar auf gynäkologischen und chirurgischen Abteilungen. Im Mai 1980 erkrankte sie an einer Pleuritis exsudativa tuberculosa rechts; im Oktober 1980 wurde eine Spondylitis tuberculosa an der Brustwirbelsäule festgestellt, die eine ventrale Spondylodese vom Brustwirbelkörper 9 bis zum Lendenwirbelsäulenkörper 1 erforderlich machte.
Der beklagte Gemeindeunfallversicherungsverband lehnte die Gewährung einer Verletztenrente ab (Bescheid vom 26. Januar 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 1983). Das Sozialgericht (SG) hat festgestellt, daß es sich bei der geltend gemachten Gesundheitsstörung um eine BK handelt und hat die Beigeladene verurteilt, der Klägerin eine Verletztenrente nach einer MdE von 50 vH zu gewähren (Urteil vom 26. Mai 1988). In seinen Urteilsgründen ist das SG den gutachterlichen Ausführungen von Prof. Dr. S. … /Dr. H. … gefolgt, die im wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt sind, bei der Klägerin handele es sich wahrscheinlich um eine im Beruf erworbene Erkrankung, weil der Exposition, dem medizinisches Personal gegenüber bekannten und unbekannten Tuberkuloseerkrankungen ausgesetzt sei, überragende Bedeutung zukomme, obwohl eine Infektionsquelle für die Klägerin letztlich nicht belegt, jedoch auch nicht ausgeschlossen sei.
Das Landessozialgericht (LSG) hat der Berufung der Beigeladenen stattgegeben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. Juli 1991). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Frage, ob und wann die Klägerin die tuberkulöse Infektion erworben habe, lasse sich mangels ausreichender Befunde nicht beantworten. Auch die von der Klägerin benannte Patientin in B. … könne nicht als Infektionsquelle angesehen werden. Die Klägerin sei während ihrer früheren Berufstätigkeit in keinem so erhöhten Maße tuberkulösen Infektionen ausgesetzt gewesen, daß man die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges generell als gegeben annehmen könne. Insoweit sei den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Dr. H. … zu folgen, die mit den gutachterlichen Darlegungen von Prof. Dr. M. übereinstimmten. In der unfallmedizinischen Literatur werde eine verstärkte Tbc-Exposition in Infektionsabteilungen, in Tbc-Laboratorien und Pathologien angenommen (vgl Marx, Medizinische Begutachtung, 5. Aufl, S 239). Als tuberkulosegefährdet würden Gensch, Knigge und Bauer in der von Dr. Dr. H. … vorgelegten Arbeit alle Beschäftigten in spezifischen Abteilungen ansehen. Hingegen sei nach Dr. Dr. H. … in den Bereichen Medizinische Klinik, Chirurgie, Kinderklinik ua ein mit der Gefährdung der Allgemeinbevölkerung gleichzuerachtendes durchschnittliches Risiko festzustellen. Lediglich für den Fall, daß in einem Krankenhaus die medizinische Klinik und die Lungenabteilung nicht getrennt seien, bestünde für das dortige Personal ein etwas erhöhtes Risiko. – Die Klägerin sei in den zwölf Jahren ihrer Tätigkeit fast ausschließlich in Abteilungen beschäftigt gewesen, in denen kein erhöhtes Risiko bestanden habe, an Tbc zu erkranken. Nur die Tätigkeit auf der internistischen Abteilung in B. … habe mit einem erhöhten Infektionsrisiko verbunden gewesen sein können, da das Diakonissenheim nach den Angaben der Klägerin über keine getrennte Lungenabteilung verfügt habe. Aber auch, wenn man diese Gefährdung unterstelle, fehle es doch an dem Nachweis einer mit dieser Tätigkeit in zeitlichem Zusammenhang aufgetretenen Primärinfektion (Inkubationszeit 6 Wochen bis 18 Monate – vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 4. Aufl, S 624).
Der Senat hat durch Beschluß vom 17. März 1992 (- 2 BU 161/91 –) die Revision gegen das Urteil des LSG zugelassen.
Mit der Revision rügt die Klägerin, das angefochtene Urteil des LSG leide an einer Reihe schwerwiegender Verfahrensmängel. Insbesondere habe das LSG den Amtsermittlungsgrundsatz in mehrfacher Beziehung verletzt. Gerügt werde ferner eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). So sei sie im Urteil mit einem Zitat aus einem ihr unbekannten Werk (Marx, Medizinische Begutachtung, 5. Aufl, S 239) überrascht worden, dessen Verwertung als Beweismittel ihr nicht mitgeteilt worden sei, so daß sie keine Gelegenheit besessen habe, dazu Stellung zu nehmen. Bei fehlerfreiem Verfahren hätte durch Beweisanträge geltend gemacht werden können, daß die in dem Zitat enthaltene Aussage im Gegensatz zur Meinung anderer Fachärzte stehe. Das LSG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör auch insofern verletzt, als sie von der Verwertung eines weiteren, ihr unbekannten Beweismittels überrascht worden sei. Dabei handele es sich um das Spezialbuch von Schönberger/Mehrtens/Valentin, das nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen sei. Dadurch sei sie daran gehindert worden, gegenteilige medizinische Lehrmeinungen in das Verfahren einzuführen, die gerade für die Spondylitis andere Befunde verträten, von erheblich längeren Inkubationszeiten berichteten und zusätzlich auf die gerade bei der Spondylitis zu beobachtende stark schwankende Latenzzeit hinwiesen. Es sei davon auszugehen, daß das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn das Gericht einen Sachverständigen für Tbc-Erkrankungen, insbesondere auch hinsichtlich der für eine Spondylitis geltenden viel längeren Inkubationszeit, gehört hätte. Die überraschend unterstellte Inkubationszeit von 6 Wochen bis 18 Monaten werde im medizinischen Schrifttum nur für andere Tbc-Erkrankungen vertreten. Darüber hinaus weiche das angefochtene Urteil von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Mai 1988 (- 2 RU 33/87 –) ab.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Mai 1988 abzuweisen,
hilfsweise, das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Entscheidung einem anderen Gericht zuzuweisen,
hilfsweise, unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Januar 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 1983 festzustellen, daß es sich bei dem defektfreien Heilungszustand der Klägerin nach Pleuritis exsudativa tuberculosa rechts, dem deutlichen Defektheilungszustand bei Zustand nach Spondylitis tuberculosa Th 9/12 und anschließender Spondylose um die Folgen einer Berufskrankheit handelt,
die Beigeladene zu verurteilen, der Klägerin als Verletztenrente eine Teilrente in Höhe von 50 vH der Vollrente zu gewähren,
der Beigeladenen die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
Die Beigeladene beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. Juli 1991 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen,
hilfsweise,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das angefochtene Urteil hält den Verfahrensrügen zumindest teilweise nicht stand. Es genügt, daß nur eine der Revisionsrügen durchgreift; auf weitere Rügen, die ebenfalls zur Begründetheit der Revision führen könnten, braucht dann nicht mehr eingegangen zu werden (vgl zuletzt Urteile des erkennenden Senats vom 12. Mai 1992 – 2 RU 4/92 – und vom 4. August 1992 – 2 RU 42/91 –). Hier führt die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Nach § 128 Abs 2 SGG darf das Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Hatten die Beteiligten hierzu keine Gelegenheit, so ist nicht nur § 128 Abs 2 SGG verletzt, sondern gleichzeitig auch der in Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes garantierte und in § 62 SGG konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl BSG SozR 1500 § 62 Nr 11).
Im vorliegenden Fall hat das LSG den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, daß es eine Tatsache zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat, zu der sich die Klägerin nicht äußern konnte, weil sie zuvor nicht in das Verfahren eingeführt worden ist.
Hierbei handelt es sich um die medizinische Lehrmeinung, die Inkubationszeit einer tuberkulösen Primärinfektion betrage 6 Wochen bis 18 Monate. Unter Hinweis darauf ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, die im Mai 1980 aufgetretene Tuberkulose-Erkrankung der Klägerin könne – wegen des fehlenden zeitlichen Zusammenhangs – nicht auf die Tätigkeit der Klägerin im Diakonissenheim (1968 bis 1971) zurückgeführt werden. Daß es sich bei diesem Schluß um einen tragenden Teil der Urteilsgründe handelt, geht daraus hervor, daß das LSG darauf abgestellt hat, die Klägerin sei nur in diesem Zeitraum einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt gewesen, weil das Diakonissenheim – den Vortrag der Klägerin als wahr unterstellt – auf der internistischen Abteilung über keine getrennte Lungenfachabteilung verfügt habe. Die damit entscheidungserhebliche Tatsache der Inkubationszeit ist nicht durch das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere nicht durch die Ausführungen der gehörten Sachverständigen belegt. Zum Beweis dieser Tatsache hat sich das LSG vielmehr ausschließlich auf das Zitat von Schönberger/ Mehrtens/ Valentin gestützt, ohne die Klägerin zuvor in irgendeiner Form auf die Verwertung dieser Lehrmeinung hinzuweisen. Hierdurch unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt wesentlich von dem, in dem das Tatsachengericht das durch die Beweisaufnahme, insbesondere durch ein ärztliches Sachverständigengutachten gefundene Beweisergebnis durch einen Schrifttumnachweis untermauert (s BSG Beschluß vom 4. August 1992 ≪2 BU 41/92≫). In einem solchen Fall ist es dann grundsätzlich auch unerheblich, ob das zitierte Werk den Beteiligten bekannt gewesen ist.
Die Klägerin hat auch hinreichend dargetan, daß das angefochtene Urteil auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen kann. Hätte das LSG der Klägerin Gelegenheit gegeben, sich zu der im Urteil zitierten Lehrmeinung von Schönberger/Mehrtens/Valentin zu äußern, hätte es sich wegen des klägerischen Einwands, gerade bei der Spondylitis seien stark schwankende und erhebliche längere Inkubationszeiten zu beobachten, möglicherweise veranlaßt gesehen, ein zusätzliches Sachverständigengutachten einzuholen und wäre eventuell zu einem anderen Ergebnis gelangt.
Wegen des erfolgreich gerügten Verfahrensmangels kann der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Nach Zurückverweisung wird das LSG der Klägerin Gelegenheit geben müssen, ihr rechtliches Gehör wahrzunehmen, und im Anschluß daran ggf weitere Tatsachenfeststellungen zu treffen haben.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen