LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.4.2021, 8 Sa 240/20
Das BEM-Verfahren i. S. d. § 167 SGB IX ist zwar keine formelle Voraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung des Arbeitgebers. Jedoch dient das Verfahren dazu, mildere Mittel als die Kündigung zu erkennen und zu entwickeln. Ohne die Durchführung eines vorherigen BEM-Verfahrens muss der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess detailliert die objektive Nutzlosigkeit des BEM nachweisen oder mildere Mittel als die Kündigung ausschließen.
Sachverhalt
Der Kläger, geboren im Jahr 1987, ist seit Juni 2008 bei der Beklagten als kaufmännischer Angestellter beschäftigt. Im Jahr 2016 fehlte der Kläger an 20 Tagen infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, im Jahr 2017 an 52 Tagen und im Jahr 2018 an insgesamt 191 Tagen, wobei er ab dem 3.7.2018 bis zur Kündigung durchgehend arbeitsunfähig erkrankt war. Im Mai 2019 hatten die Parteien ein Fehlzeitengespräch geführt. Der Kläger erklärt hierbei, dass er an einer Knieverletzung und an einer weiteren Krankheit leide. Bezüglich der Knieverletzung stehe eine Knie-Operation an mit einer sich anschließenden Fehlzeit von ca. 2 Wochen; zu der 2. Krankheit hatte der Kläger keine Angaben gemacht. Ein weiteres Gespräch fand mit dem Kläger im August 2019 statt. Es handelte sich hierbei um ein "Kennenlern-Gespräch" mit dem neuen Vorgesetzten des Klägers. Auch in diesem Gespräch wies der Kläger auf die anstehende Knie-OP und die damit verbundene Fehlzeit hin. Im Anschluss des Gespräches teilte er telefonisch den zwischenzeitlich bekannt gegebenen OP-Termin mit.
Nach ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates kündigte die Beklagte am 19.9.2019 das Arbeitsverhältnis zum 29.2.2020. Ein BEM-Verfahren wurde im Vorfeld nicht durchgeführt. Die Beklagte brachte hierzu vor, dass sie dem Kläger ein solches Angebot im Jahr 2017 unterbreitet, dieser das Angebot jedoch abgelehnt habe.
Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage.
Die Entscheidung
Die Klage hatte Erfolg. Das Gericht entschied, dass die Kündigung nicht gem. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG aus personenbedingten Gründen sozial gerechtfertigt war.
Es führte insoweit aus, dass für eine Kündigung wegen Langzeiterkrankung 3 Voraussetzungen vorliegend müssten:
a. negative Gesundheitsprognose: hierfür sei Voraussetzung, dass im Kündigungszeitpunkt und hinsichtlich der ausgeübten Tätigkeit objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis einer weiteren, längeren Erkrankung rechtfertigten;
b. erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen und
c. Interessenabwägung: hierfür seien das Lösungsinteresse des Arbeitgebers und das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers abzuwägen. Dies müsse zum Ergebnis führen, dass die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen.
Das Gericht führte dann zu den einzelnen Voraussetzungen aus, dass eine lang andauernde krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ein gewisses Indiz für die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit in der Zukunft darstellen könne, sodass es für die Darlegung der negativen Gesundheitsprognose zunächst genüge, wenn der Arbeitgeber die bisherige Dauer der Erkrankung und ihm bekannte Krankheitsursachen vortrage. Allerdings sehe das Gesetz keine "festen Abwartezeiten" vor, welche abzuwarten seien, bevor der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis kündigen könne, sondern es sei auf die Besonderheiten des Einzelfalles abzustellen. Ob vorliegend diese "Abwartezeit" erfüllt sei, könne jedoch dahingestellt sein, da die Kündigung aus anderen Gründen rechtsunwirksam war; denn die Beklagte hatte es unterlassen, ein BEM -Verfahren gem. § 167 SGB IX durchzuführen. Es konnte dabei dahingestellt bleiben, ob die Beklagte den Kläger im Jahr 2017 tatsächlich zu einem BEM-Verfahren eingeladen und der Kläger diese Einladung nicht angenommen habe; denn aufgrund der deutlich mehr als 6 Wochen andauernden Arbeitsunfähigkeit auch im Jahr 2019 sei die Beklagte verpflichtet gewesen, dem Kläger vor Ausspruch der Kündigung erneut ein BEM- Verfahren anzubieten. Dies war jedoch nicht erfolgt. Zwar führe dies, so das LAG weiter, nicht per se zur Unwirksamkeit der Kündigung; denn die Durchführung eines BEM-Verfahrens sei hierfür keine formelle Voraussetzung. Allerdings führe dies zu einer Erweiterung der Darlegungslast der Beklagten; denn Sinn und Zweck des BEM- Verfahrens sei es, mildere Mittel als die Kündigung, z. B. Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder die Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen auf einem anderen Arbeitsplatz, zu erkennen und zu entwickeln. Jedoch bestehe auch in diesem Fall die Möglichkeit, dass ein tatsächlich durchgeführtes BEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können. In einem solchen Fall dürfe dem Arbeitgeber kein Nachteil daraus entstehen, dass er es unterlassen habe, das Verfahren durchzuführen. Möchte sich jedoch der Arbeitgeber darauf berufen, dann müsse er die objektive Nutzlosigkeit des BEM-Verfahrens darzulegen und ggf. beweisen. Er habe dann umfassend und konkret vorzu...