Rz. 3
§ 323 ist eine der fragwürdigsten Vorschriften im SGB III. Sie ergänzt die für das gesamte SGB geltenden Regelungen, insbesondere im SGB I. § 323 gehört zu den Verfahrensvorschriften und grenzt damit das Antragserfordernis vom materiellen Recht bei den einzelnen Anspruchsvoraussetzungen für die Leistungen der Arbeitsförderung ab. Die Vorschrift bildet einen Verbund mit § 324 (Zeitpunkt der Antragstellung), § 325 (Wirkung des Antrags) und § 327 (Zuständigkeit). § 327 fällt jedoch nicht mehr in den Abschnitt über Antrag und Fristen. Zum 1.4.2024 ist das neue Qualifizierungsgeld in die Vorschriften integriert worden.
Rz. 4
Das Antragserfordernis ist jedenfalls im Recht der Arbeitsförderung überholt. Das zeigen die Grundsätze, die im SGB I aufgestellt werden, aber auch der neuere Grundsatz des Forderns und Förderns. Anträge auf Leistungen sind auf eine Zugunstenregelung durch die Verwaltung ausgerichtet, der Antragsteller bringt dies mit einer Willenserklärung zum Ausdruck, die seinem Begehren auf eine oder mehrere Leistungen mehr oder weniger entspricht. Dem steht die Verpflichtung des Leistungsträgers gegenüber, potenzielle Antragsteller zu informieren, aufzuklären und zu beraten. Dafür hat er die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, insbesondere durch eine geeignete Organisation und qualifiziertes Personal.
Rz. 5
Alle Aktivitäten des Leistungsträgers sind darauf auszurichten, die Rechte des Einzelnen auszuschöpfen und so Zufälligkeiten zu begegnen, die sich durch Unzulänglichkeiten in einzelnen Dienststellen oder beim Personal im Hinblick auf die Realisierung von Ansprüchen ergeben können (Rechtsstaatsprinzip, vgl. auch § 17 SGB I). Die Verpflichtung findet seine Grenze nur dort, wo Beratung des Einzelnen in Missbrauchsberatung überzugehen droht. Andererseits steht den Rechten im Rahmen des Forderns auch die Pflicht gegenüber, Leistungen in Anspruch zu nehmen und dazu beizutragen, dass der Versicherungsfall alsbald beendet wird. Vor diesem Hintergrund müsste den Vorstellungen des Gesetzgebers weitestgehend dadurch Rechnung getragen werden können, dass die Bundesagentur für Arbeit online-Dienste anbietet, mit deren Hilfe die Leistungen unkompliziert und problemlos beantragt werden können. Selbst dann bleibt zweifelhaft, dass ein Arbeitnehmer, der sich im Regelfall an die Bundesagentur für Arbeit wendet, um Unterstützung bei der Reintegration in den 1. Arbeitsmarkt zu erhalten und für die Zwischenzeit Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Anspruch nehmen möchte, damit noch nicht ausreichend zum Ausdruck gebracht haben soll, dass er (spezifische) Leistungen begehrt. Dagegen ist es sinnvoll, bei Leistungen, die dem Arbeitnehmer gewährt werden, aber letztlich dem Arbeitgeber zugutekommen, wie z. B. beim Qualifizierungsgeld nach § 82a, den Arbeitgeber auch in Bezug auf die Antragstellung und Nachweiserfordernissen in die Pflicht zu nehmen.
Rz. 6
Auskunfts- und Beratungsmängeln kann der Bürger im Klagewege begegnen. Darüber hinaus finden sich weitere Rechtsinstitute, insbesondere der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, zur Wiederherstellung der mängelfreien Verhältnisse. Dieser muss auch bei Aufklärungsmängeln und selbst dann zum Tragen kommen, wenn der Bürger Informationen der Behörde nicht verstanden hat. Maßgebliche Rechtsgrundlage dafür ist § 17 SGB I, aus dem eine Fülle von Prinzipien hervorgehen, auf die sich der Einzelne berufen kann (leichter Zugang, Verständlichkeit, Schnelligkeit, Vollständigkeit usw.).
Rz. 7
Für § 323 bedeutet dies, dass die Arbeitsverwaltung Willenserklärungen eines Antragstellers ausweiten oder einengen, umdeuten oder auslegen muss, bis von der Antragstellung die gesamte Bandbreite in Betracht kommender Leistungen bei der Arbeitsverwaltung selbst oder einem anderen Sozialleistungsträger (vgl. § 16 SGB I) erfasst wird. Dabei ist so vorzugehen, dass die jeweilige rechtliche Situation den Verständnismöglichkeiten des Antragstellers entsprechend erläutert und dargelegt wird (Kooperation). Dies schließt Hinweise auf Unterlassungsfolgen im Einzelfall ein. Damit wird zugleich definiert, welche Anforderungen an eine qualifizierte leistungsrechtliche Beratung durch die Agenturen für Arbeit zu stellen sind.
Rz. 8
Werden die Grundsätze und Prinzipien des SGB in einer Gesamtschau betrachtet und dabei die Rechtsprechung berücksichtigt, bedarf es keines besonderen Mutes mehr, auf das Antragserfordernis gänzlich zu verzichten. Dies bedeutet, dass Leistungen stets von Amts wegen erbracht werden können und gesetzliche Schranken entfallen, die auf eine verzögerte oder in sonstiger Weise eingeschränkte Leistungserbringung ausgerichtet sind. Grenzen könnten durch die Beweislastverteilung gezogen werden. Dass Leistungen der Arbeitsförderung (grundsätzlich) nur auf Antrag erbracht werden (Abs. 1 Satz 1), ist mit einem modernen Sozialrechtsverständnis abzulehnen. Im Zuge der Gesetzgebung in 2020 hat der Gesetzgeber jedoch in vollem Umfang daran festgehalten...