BAG, Urteil vom 29.6.2022, 6 AZR 475/21
Leitsatz (amtlich)
Einschlägige Berufserfahrung i. S. v. § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L kann bei Aufbaufallgruppen auch in einer niedrigeren Entgeltgruppe erlangt werden, wenn die höhere Bewertung der Tätigkeit nach der Wiedereinstellung aus der bloßen Erhöhung des Zeitanteils eines Arbeitsvorgangs resultiert.
Sachverhalt
Die Klägerin ist seit dem 1.7.2012 ohne zeitliche Unterbrechung bei dem Beklagten als Sachbearbeiterin im Bereich Weiterbildung an der Technischen Universität D tätig.
Bis zum 31.3.2017 lagen der Beschäftigung der Klägerin 5 jeweils befristete Arbeitsverträge zugrunde. Zunächst war sie in Teilzeit mit einem Anteil von zunächst 40 % und später 62,5 % der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit einer Vollzeitkraft beschäftigt. Der TV-L fand auf das Arbeitsverhältnis Anwendung.
Zum 1.4.2017 wurde die Klägerin unbefristet eingestellt. Die ihr nunmehr übertragene Tätigkeit verlangt eine "hochschuldidaktische Zusatzqualifikation", welche die Klägerin im Jahr 2015 erworben hatte.
Bis zum 31.3.2017, d. h. im Rahmen der befristeten Arbeitsverhältnisse, war die Klägerin eingruppiert in EG 10 TV-L. Seit dem 1.4.2017 erhält die Klägerin eine Vergütung nach EG 11 TV-L, da die in der zugrunde liegenden Stellenbeschreibung angeführte Tätigkeit "Konzeption der Weiterbildungsangebote und inhaltliche Vorgaben zu den zu vermittelnden Themen" sich durch besondere Schwierigkeit und Bedeutung aus der Entgeltgruppe 9b Fallgruppe 1 TV-L heraushebt und der Zeitanteils dieser Tätigkeit von 35 % auf 50 % der Gesamttätigkeit angewachsen ist.
Hinsichtlich der Stufenzuordnung erhielt die Klägerin ab dem 1.4.2017 das Entgelt der Stufe 1 der EG 11 TV-L. Dagegen vertrat diese die Auffassung, ihre in den befristeten Arbeitsverhältnissen erworbene Berufserfahrung sei nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L als "einschlägig" anzurechnen, was zu einer Zuordnung zur Stufe 3 bereits ab dem 1.4.2017 führe; denn die für die Zeit ihrer befristeten Beschäftigungen durch den Beklagten erstellten Tätigkeitsbeschreibungen stimmten mit der für die Zeit ab dem 1.4.2017 erstellten Tätigkeitsbeschreibung nahezu inhaltlich überein. Lediglich die Zeitanteile seien geändert worden.
Der Beklagte vertrat dagegen die Auffassung, dass es keine entgeltgruppenübergreifende Berufserfahrung gebe; und die Tätigkeit, die die Klägerin bis zum 31.3.2017 in der EG 10 TV-L ausgeübt habe, entspreche ihrer Wertigkeit nach nicht der Tätigkeit, die sie seit dem 1.4.2017 in der EG 11 TV-L zu verrichten habe.
Die Entscheidung
Die Klage hatte Erfolg.
Das Gericht führte zunächst aus, dass sich die hier strittige Stufenzuordnung nach der Wiedereinstellung der Klägerin zum 1.4.2017 nach § 16 Abs. 2 TV-L richte; denn bei der Wiederbegründung eines Arbeitsverhältnisses handele es sich nach herrschender Ansicht um eine Einstellung im Sinne dieser Tarifnorm, da die Tarifvertragsparteien nicht zwischen Neueinstellungen und Wiedereinstellungen unterschieden haben.
Nach Auffassung des Gerichts war die Klägerin gem. § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L bei ihrer Einstellung zum 1.4.2017 der Stufe 3 der EG 11 TV-L zugeordnet, weil sie in den vorangegangenen, mit dem Beklagten bestehenden befristeten Arbeitsverhältnissen seit dem 1.7.2012 einschlägige Berufserfahrung erworben hatte.
Das BAG begründete dies damit, dass entgegen der Auffassung des Beklagten das Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung i. S. v. § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L nicht kumulativ voraussetze, dass der Beschäftigte vor seiner erneuten Einstellung in derselben Entgeltgruppe eingruppiert war und wegen seiner Berufserfahrung keine Einarbeitungszeit benötige. Für das Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung, so die Ausführungen des Gerichts, sei es allein maßgeblich, ob die frühere Tätigkeit fachliche Anforderungen gestellt habe, welche den Entfall einer Einarbeitungszeit erwarten lassen. Das sei regelmäßig nicht nur dann der Fall, wenn die frühere Tätigkeit im Wesentlichen unverändert fortgesetzt werde, sondern auch dann, wenn sie gleichartig war und zwischen früherer und nunmehriger Tätigkeit eine eingruppierungsrechtliche Gleichwertigkeit bestehe. In beiden Konstellationen sei jedoch keine Identität der Eingruppierung erforderlich.
Nach der Definition in der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 16 Abs. 2 TV-L sei einschlägige Berufserfahrung eine berufliche Erfahrung in der übertragenen oder einer auf die Aufgabe bezogen entsprechenden Tätigkeit. Der Beschäftigte müsse somit in der früheren Tätigkeit einen Kenntnis- und Fähigkeitszuwachs erworben haben, der für die nach der Einstellung konkret auszuübende Tätigkeit erforderlich und prägend sei und ihm damit weiterhin zugutekomme. Das sei dann der Fall, wenn die frühere Tätigkeit im Wesentlichen unverändert fortgesetzt werde oder zumindest gleichartig sei.
Auch wenn in früheren Entscheidungen des BAG ausgeführt wurde, dass "einschlägige Berufserfahrung" grundsätzlich voraussetze, dass der Beschäftigte die Berufserfahrung in einer Tätigkeit erlangt habe, die in ihrer eingruppie...