Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 460
Es besteht keine Bindungswirkung der Arbeitsgerichte an die Feststellungen der Strafgerichte. Die Arbeitsgerichte haben den Sachverhalt ohne Bindung an das Strafurteil selbst aufzuklären und zu bewerten. Erst recht kommt es auf die Einschätzung des Vertreters der Staatsanwaltschaft nicht an. Allerdings kann ggf. ein Freispruch im Strafverfahren als Entlastung im Rahmen einer Verdachtskündigung Bedeutung gewinnen, und zwar nicht nur, wenn der Verdacht im Strafverfahren vollständig ausgeräumt worden ist, sondern auch dann, wenn Tatsachen festgestellt worden sind, die den Verdacht zumindest wesentlich abschwächen. Ob eine Aussetzung des Kündigungsschutzprozesses nach §§ 148, 149 ZPO erfolgt, steht im Ermessen des Arbeitsgerichts. Allerdings darf sich das Arbeitsgericht, um eine eigene Überzeugung davon zu gewinnen, ob sich ein bestimmtes Geschehen zugetragen hat, auf ein dazu ergangenes Strafurteil stützen. Beruft sich eine Partei zu Beweiszwecken auf ein Strafurteil, kann dies ggf. im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden (§§ 415, 417 ZPO).
Rz. 461
Der Arbeitnehmer hat auch nach rechtskräftiger Verurteilung durch die Strafgerichte Gelegenheit, die erneute Vernehmung der im Strafverfahren gehörten Zeugen zu beantragen. Zwar können Beweisprotokolle aus einem anderen Verfahren und die tatsächlichen Feststellungen in einem anderen Urteil von den Gerichten für Arbeitssachen als Urkundenbeweis zugrunde gelegt werden. Die Parteien können aber dann eine erneute Beweiserhebung verlangen, wenn der persönliche Eindruck, die Anwesenheit der Parteien, die Ausübung des Fragerechts und die Möglichkeit der Gegenüberstellung eine dem Urkundenbeweis überlegene Richtigkeitsgewähr bieten.
Rz. 462
Es kommen Beweisverwertungsverbote in Betracht, die das Gericht daran hindern könnten, angebotene Beweismittel zulasten des Arbeitnehmers zu verwenden.
Da der Arbeitgeber nach Art. 2 Abs. 1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers beachten muss, ist z. B. eine lückenlose technische Überwachung durch heimliche Ton- oder Bildträger verboten. Bei einer Kollision der schutzwürdigen Interessen des Arbeitnehmers und des Interesses des Arbeitgebers an der Sachverhaltsaufklärung, hat im Einzelfall eine Abwägung zu erfolgen. Danach kann die heimliche Videoüberwachung eines Arbeitnehmers zulässig sein, wenn der konkrete (Anfangs-)Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung besteht und die heimliche Überwachung quasi die einzige Aufklärungsmöglichkeit darstellt. Auch die Verwertung eines Zufallsfundes aus einer gerechtfertigten verdeckten Videoüberwachung kann zulässig sein und berücksichtigt werden. Die Speicherung von Bildsequenzen aus einer zulässigen offenen Videoüberwachung, die vorsätzliche Handlungen eines Arbeitnehmers zulasten des Eigentums des Arbeitgebers zeigen, wird nicht durch bloßen Zeitablauf unverhältnismäßig, solange die Rechtsverfolgung durch den Arbeitgeber materiell-rechtlich möglich ist.
Der Schutzzweck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kann ferner einer gerichtlichen Verwertung unstreitigen Sachvortrags entgegenstehen (Sachverwertungsverbot). Unstreitiger Sachvortrag ist nicht immer uneingeschränkt verwertbar, weil die Möglichkeit des Bestreitens bestanden hätte. Eine Partei unterliegt der Wahrheitspflicht nach § 138 ZPO und muss nicht gezwungen werden, grundrechtswidrig unter Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht erlangte Informationen bestreiten zu müssen, um ihre Rechte zu wahren. In einem Kündigungsschutzprozess besteht nach Maßgabe der DSGVO und der ZPO grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Dies gilt auch, wenn die Überwachungsmaßnahme nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht.