EuGH, C-518/20 u. a.: Schlussanträge des Generalanwalts vom 17.3.2022
Können Urlaubsansprüche im Fall voller Erwerbsminderung bzw. durchgehender Arbeitsunfähigkeit auch dann verfallen, wenn dem Arbeitnehmer nicht die Möglichkeit gegeben wurde, den Urlaub vor dem Eintritt der Erwerbsminderung bzw. Arbeitsunfähigkeit zu nehmen? Schlussanträge des Generalanwalts Jean Richard de la Tour in den verbundenen Rechtssachen C-518/20 und C-727/20, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus.
Sachverhalt
In 2 Rechtsstreitigkeiten (Fraport bzw. St. Vincenz-Krankenhaus) hat das BAG zu entscheiden, ob Mitarbeiter Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub für das Urlaubsjahr haben, in dem sie aufgrund einer Krankheit voll erwerbsgemindert bzw. arbeitsunfähig wurden. Das Gericht ersuchte hierbei den EuGH um Auslegung der Richtlinie 2003/88 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Es geht um die Frage, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, aus der sich ergibt, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer in dem Urlaubsjahr erworben hat, in dem eine volle Erwerbsminderung oder eine Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer Krankheit eingetreten ist, und die seitdem fortbesteht, nach Ablauf eines nach innerstaatlichem Recht zulässigen Übertragungszeitraums erlöschen könne, und zwar auch dann, wenn diesem Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber nicht die Möglichkeit gegeben wurde, diesen Anspruch während der tatsächlichen Arbeitszeit wahrzunehmen, bevor die volle Erwerbsminderung bzw. die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit eingetreten sei.
Bei der Entscheidung wird der EuGH die Lehren aus den Urteilen vom 20.1.2009, Schultz-Hoff u. a., und vom 22.11.2011, KHS, sowie aus dem Urteil vom 6.11.2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, zu berücksichtigen und in Einklang zu bringen haben.
Die Schlussanträge
Gemäß der Ansicht des Generalanwalt Richard de la Tour sei die Richtlinie 2003/88 und die Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, der in einem Bezugszeitraum erworben wurde, in dem eine volle Erwerbsminderung oder eine Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit eingetreten sei, erlöschen könne, obwohl sein Arbeitgeber ihn nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hatte, diesen Anspruch vor Beginn dieser vollen Erwerbsminderung oder dieser Arbeitsunfähigkeit wahrzunehmen.