EuGH, Urteil vom 22.9.2022, C-518/20 und C-727/20
Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für das Urlaubsjahr, in dessen Verlauf der Arbeitnehmer vollständig erwerbsunfähig bzw. arbeitsunfähig wurde, verfällt nicht, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub zu nehmen.
Sachverhalt
a. Rechtssache C-518/20
Ein Arbeitnehmer von Fraport bezieht seit Dezember 2014 wegen einer schweren Behinderung eine Rente wegen voller, aber nicht dauerhafter Erwerbsminderung. Er begehrte die Feststellung, dass ihm für 2014 noch 34 Tage bezahlter Jahresurlaub zustehen, die er aufgrund seines Gesundheitszustands nicht habe nehmen können, da insbesondere Fraport ihrer Hinweis- und Aufforderungsobliegenheit nicht nachgekommen sei. Diese war dagegen der Ansicht, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für das Jahr 2014 nach Ablauf des im BUrlG vorgesehenen Übertragungszeitraums am 31.3.2016 erloschen sei, da der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers, der aus gesundheitlichen Gründen lang andauernd außerstande sei, seinen Urlaub zu nehmen, 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfalle und zwar unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seiner Obliegenheit nachgekommen sei oder nicht.
b. Rechtssache C-727/20
Eine Angestellte des St. Vincenz-Krankenhauses ist seit ihrer Erkrankung im Jahr 2017 arbeitsunfähig. Sie begehrte die Feststellung, dass ihr für das Jahr 2017 noch 14 Tage bezahlter Urlaub zustehen. Auch sie vertrat die Auffassung, dass ihr Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht wegen ihrer fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit erloschen sei, da ihr Arbeitgeber es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall der Urlaubstage hinzuweisen.
Das mit den – in der Revision verbundenen – Verfahren befasste BAG hatte die Rechtssachen ausgesetzt und dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Es stellte sich die Frage, ob die im BUrlG vorgesehene Regel, wonach ein Urlaub, der im Fall einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht genommen wurde, auch dann verfällt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch in dem Arbeitszeitraum vor seiner vollen Erwerbsminderung tatsächlich auszuüben, mit der Richtlinie 2003/88 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung vereinbar ist.
Die Entscheidung
Der EuGH entschied, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, entweder nach Ablauf eines nach nationalem Recht zulässigen Übertragungszeitraums oder später auch dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben.
Bei (Langzeit-)Krankheit verfällt der Urlaubsanspruch in Übereinstimmung mit dem Urteil des EuGH (vom 22.11.2011, C-214/10 – KHS) nach deutschem Recht normalerweise nach 15 Monaten.
In den vorliegenden Fällen wurden jedoch Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub geltend gemacht, die für den Bezugszeitraum erworben wurden, in dem die Beschäftigten nur zum Teil voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig waren. Somit bestehe nach Auffassung des Gerichtshofes nicht die Gefahr der negativen Folgen einer unbeschränkten Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub. Deshalb sei es hier zum Schutz der Interessen des Arbeitgebers nicht unbedingt erforderlich, eine Ausnahme vom Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub zu rechtfertigen, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht nachgekommen war.
Anmerkung:
Durch diese Entscheidung hat das EuGH Klarheit geschaffen, ob bzw. wann der Urlaub trotz fehlendem Hinweis des Arbeitgebers erlöscht. Da insoweit deutlich wird, dass der Anspruch des Arbeitnehmers auf Erholungsurlaub Priorität genießt, sollten die geforderten Hinweis- und Mitwirkungspflichten nicht auf die "die leichte Schulter" genommen werden.