Leicht hatte und hat es das Betriebsverfassungsgesetz nicht: Als die Adenauer-Regierung 1951/1952 das Betriebsverfassungsgesetz einbrachte, bekämpften es die Gewerkschaften vehement. Als die Brand-Regierung 1972 eine Novelle durchsetzte, liefen die Arbeitgeber Sturm – bis zum Bundesverfassungsgericht. Danach gab es nur noch kleine Reförmchen – etwa die Reform im Jahr 2001 (mit nicht unerheblichen inhaltlichen Erweiterungen der Mitbestimmung) und 2021 das "Betriebsrätemodernisierungsgesetz", das weder das Betriebsverfassungsgesetz noch die Betriebsräte wirklich modernisierte (man mag die Verpackung auch getrost als Mogelpackung bezeichnen). Große Würfe? Fehlanzeige. Und das bei einem Gesetz das nun – je nachdem welches Jahr man als Entstehungsjahr heranzieht – 50-jähriges oder gar 70-jähriges Jubiläum feiert!
Modernisierung bleibt frommer Wunsch
Nein, es geht mir nicht um eine Reform der Reform wegen. Die "guten alten Dinge" sind nach wie vor im Kern gut, zum Beispiel das BGB und das HGB (Ersteres, wenn man von der nicht ganz geglückten Schuldrechtsreform aus dem Jahr 2002 absieht. Die Neuerungen aus 2022 stellen schon eher eine Modernisierung dar). Aber wenn es Veränderungen gibt, müssen diese nachvollziehbar sein. Und hier heißt Modernisierung - die regelmäßigen Leserinnen und Leser dieser Kolumne wissen das - nicht zusätzliche Regelungen und Regulierungen, sondern - neuen betrieblichen Formen und einem neuen Mindset folgend - eben "Deregulierung". Zumindest in einem maßvollen Umfang.
Alle Rufe nach Modernisierung in Hinblick auf neue technische Entwicklungen verhallten indes ungehört im Nirgendwo. Mit großen Schwierigkeiten hat sich die Beschlussfassung der Gremien auf virtuellem Weg zumindest während der Coronapandemie doch ein wenig etabliert. Aber am 19. März 2022 ist Schluss damit, wie uns ein Blick in § 129 BetrVG zeigt. Auch mit virtuellen Betriebsversammlungen. Immerhin sind wenigstens die Sitzungen des Betriebsrats unter bestimmten Voraussetzungen virtuell möglich - § 30 BetrVG hat insoweit den "Übergangsstaus" verloren. Elektronische Wahlen sind gar nicht erst vorgesehen (da hatte das BMAS sicher nur die Dauer von Corona unterschätzt). Das Nachziehen zumindest dieser vorübergehenden Regelungen im Sprecherausschussgesetz hat man gar nicht erst versucht.
Modernisierung schafft bessere betriebliche Willensbildung
Aber wir brauchen die Modernisierung. Schnell, jetzt und heute – um niemanden gesundheitlich in Gefahr zu bringen. Es gilt die Homeoffice-Pflicht, aber zur Betriebsratswahl muss man in den Betrieb und dort an die Urne? § 24 der Wahlordnung erlaubt es nicht generell, Briefwahlunterlagen zu versenden. Das Primat der Urne gilt und das Verfahren, Beschäftigte zur Betriebsratswahl einzuladen ist nicht ohne Hindernisse. "Sind Beschäftigte wegen Abwesenheit vom Betrieb verhindert, ihre Stimme persönlich abzugeben", so das Gesetz, dann und nur dann ist Briefwahl möglich.
Wir brauchen diese Modernisierung auch eines "Mehr" an Beteiligung an der betrieblichen Willensbildung wegen. Die elektronische Teilnahme an Versammlungen und Wahlen ist heutzutage längst nicht mehr nur etwas für Nerds, es ist vielmehr mittlerweile etabliert – in Aufsichtsratssitzungen, bei Arbeitsgerichten, selbst die Sozialversicherungen ziehen mit. Alles keine als Vorreiter technischer Revolution bekannte Institutionen. Und dennoch schaffen sie es, mit der Zeit zu gehen.
Wir brauchen die Modernisierung auch, um den Strukturen der Unternehmen – die wahrlich nicht mehr als "neu" bezeichnet werden können – gerecht werden zu können. Matrix, Auslandsbezug, ortsunabhängiges Arbeiten – damals, 1952, oder auch noch 1972 und sogar 2001 nicht oder kaum denkbar. Die Welt hat sich aber 70, 50, 20 Jahre weitergedreht. Nur das Betriebsverfassungsgesetz ist in Würde gealtert. In Würde?
Fitnessprogramm? Entstaubung? Oder doch mehr als nur das?
Ja, in Würde: Die postulierte "vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat" ist – mit oder ohne Betriebsverfassungsgesetz – wichtig und richtig. Aber das läuft nicht mehr so ab wie noch 1952. Die Unternehmer wie auch die Arbeitnehmervertreter von damals sind Geschichte, die Unternehmen von damals sind Geschichte, die Arbeitnehmenden, die Technologie, die Produktionsstätten – alles. Warum also tun wir uns bei tatsächlichen Reformen des Betriebsverfassungsgesetzes so schwer?
Vielleicht, weil beide "Seiten" immer gleich das Kind mit dem Bade ausschütten wollen. Die Geschichte der Jahre 1952 und 1972 zeigt, dass der Reformer es immer schwer hat. Wie wäre es eigentlich, wenn "beide Parteien" an einem Strick – und auch noch in dieselbe Richtung – ziehen würden? Wenn eine Reform des Gesetzes nicht möglich ist, auch, weil das politisch nicht opportun erscheinen mag (gefühlt sind die nächsten Bundestagswahlen ja immer direkt vor der Tür), dann vielleicht eine Reform durch die direkten Beteiligten?
Es geht - aber nur gemeinsam
Ein Einstieg könnte § 3 BetrVG sein. Hier werden den Betriebsparteien selbst (oder gemeinsam mit der Gewerkschaft) Gestaltungsoptionen angeboten. Weshalb diesen Weg nicht weitergehen? Den Katalog des § 87 BetrVG dispositiv gestalten? Verfahren zu Personalthemen wie auch wirtschaftlichen Themen eine Öffnungsklausel verpassen? Die Verfahren selbst – Sitzungen, Beschlussfassung, Wahlen – durch die Betroffenen regeln lassen?
Das würde die "vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat" verfestigen. Es könnte Best Practices hervorbringen, die dann womöglich für eine (echte) Reform des Betriebsverfassungsgesetzes taugen könnten. Aus der Praxis heraus. Erprobte, taugliche und rechtssichere Inhalte. Ein wenig geübt haben wir alle ja schon im Rahmen der Entwicklung der europäischen Betriebsräte. Wie viele gut funktionierende freiwillige Vereinbarungen gibt es da doch!
Zumindest das, was zum Arbeitszeitrecht kommen soll(te), wäre angebracht: weitgehende "Experimentierspielräume" zur (rechtssicheren) Evaluation neuer Modelle der betrieblichen Mitbestimmung. Konservativen Parteien ginge so etwas allerdings zu weit, weil hier den Betriebsparteien (zu) viel Eigenverantwortung abverlangt wird. Aber von den jetzigen Koalitionspartnern will sich doch niemand konservativ nennen? "Mehr Fortschritt wagen" fällt einem dazu doch gleich ein. Oder steht so viel Fortschritt vielleicht gar nicht im Koalitionsvertrag?
Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU), sowie Vorstand und Arbeitsdirektor bei ABB, blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.