Mehr Fortschritt in HR wagen?
"Mehr Fortschritt wagen" hat sich die neue Regierung als Leitmotto für den Koalitionsvertrag gegeben. Damit wird – im Unterschied zu Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" – kein bestimmtes Politikfeld adressiert, es wird die alte Idee vom Fortschritt wiederbelebt, die bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein Leitmotiv für die Politik war. Ein "Fortschritt" jedenfalls wurde uns schon beim Zustandekommen des Vertrags vor Augen geführt, der eher kultureller Natur ist: Was im Wahlkampf noch als unvereinbar erschien, wurde zu einem Bündnis zusammengeführt. Antipoden wie FDP und Grüne konnten Brücken bauen, sie haben das Verbindende stärker betont als das Trennende. In einer Gesellschaft, die immer vielfältiger und widersprüchlicher wird, ist das ein nicht zu unterschätzender Fortschritt, der das Land und die Unternehmen voranbringen kann – wenn dieser Modus in der Regierungskoalition erhalten bleibt.
Der Blick der HR-Fachleute richtete sich bei einer neuen Regierung zunächst einmal auf das Arbeitsrecht und das Bundesarbeitsministerium. Mit Hubertus Heil wurde der Arbeitsminister aus der letzten Legislaturperiode im Amt bestätigt, das lässt eine Fortsetzung sozialdemokratischer Arbeitspolitik erwarten. Mit der Anhebung des Mindestlohns wird eines der wichtigsten Wahlversprechen der SPD eingelöst, die Betriebe müssen es nun umsetzen. Wenn Millionen von Beschäftigten demnächst eine Lohnerhöhung erhalten, dürfte davon die Regierung profitieren. Die negativen Effekte werden sich in Grenzen halten, wie der Wirtschaftsnobelpreisträger David Card mit seinen empirischen Studien zeigte.
Mobilarbeit und Mobbing-Report
Die Regierung wird sich auch mit der hybriden Arbeitswelt beschäftigten – zunächst ist ein Dialogprozess zu erwarten, was wir bereits aus den letzten Legislaturperioden kennen. Ein Ankerpunkt ist im Koalitionsvertrag gesetzt, den die HR-Fachleute sicherlich begrüßen: Homeoffice wird als eine Möglichkeit der mobilen Arbeit rechtlich von der Telearbeit und dem Geltungsbereich der Arbeitsstättenverordnung abgegrenzt.
Ferner soll die Tarifbindung gestärkt werden. Zum einen durch Auftragsvergabe des Bundes, zum anderen dadurch, dass Flexibilisierung von Arbeitszeit nur im Rahmen von Tarifverträgen stattfinden soll. Auch die Einführung eines Mobbing-Reports wird angekündigt – beides gewerkschaftliche Themen mit moderatem Konfliktstoff. Konfliktreichere Regulierungsvorgaben, die man von der SPD hätte erwarten können, haben es nicht in das Regierungsprogramm geschafft: kein Ausbau der Frauenquoten, keine deutlichen Einschränkungen von Befristungen oder der Leiharbeit. Selbst arbeitsrechtliche Kommentatoren, die aus der Unternehmensbrille auf den Koalitionsvertrag schauen, sind zufrieden. "Die Abschnitte zur Arbeitswelt werden vom Nebel des Ungefähren, dem Charme der Absichtserklärung und mutigem Ankündigen umweht. Die gute Nachricht ist: Da sind keine Schrecken drin" formulierte etwa Rupert Felder, Vizepräsident des Bundesverbandes der Arbeitsrechtler in Unternehmen.
Initiativen gegen den Fachkräftemangel
Wichtige Themen für die HR-Arbeit sind aber auch außerhalb des klassischen Arbeitsrechts zu finden. Für die sinnvolle Ausgestaltung kommt es hier auf die Zusammenarbeit mehrerer Ministerien an, die von unterschiedlichen Parteien geführt werden. Das dürfte spannend werden.
Der Mangel an Fachkräften ist in vielen Branchen eines der zentralen Wachstumshemmnisse. Das wird im Koalitionsvertrag anerkannt. Dazu werden verschiedene Initiativen angekündigt. Mehr Arbeitnehmende sollen tatsächlich bis zum Erreichen des Renteneintrittsalters arbeiten und die Erwerbsbeteiligung von Frauen oder Teilzeitkräften soll erhöht werden – das sind alte Rezepte, die gleichwohl bedeutsam bleiben. Die neue Regierung packt jetzt aber auch ein Thema an, das es bei der großen Koalition nie auf die Tagesordnung geschafft hat. Sie setzt auf "Arbeitskräfteeinwanderung". Hier wird ein neues Kapitel aufgeschlagen, das die Wirtschaft seit Jahren einfordert. Eine Einwanderungspolitik, mit der Fachkräfte gewonnen werden, die hierzulande fehlen. Dazu soll eine "Chancenkarte" eingeführt werden, die gesteuerte Einwanderung nach einem Punktesystem ermöglicht. Die Blue Card wird auch auf nichtakademische Berufe ausgeweitet.
Berufliche Bildung und Weiterbildung
Seit Jahren klagt die Wirtschaft über die Vernachlässigung der dualen Berufsausbildung. Über Jahrzehnte war die Bildungspolitik auf die akademische Bildung fixiert. An mehreren Stellen wird im Koalitionsvertrag eine Stärkung der dualen Berufsausbildung angekündigt und es werden konkrete Maßnahmen genannt, um eine Kehrtwende einzuleiten. Die Begabtenförderung soll auch in der beruflichen Bildung eingeführt werden, die Begabtenförderungswerke werden für Nicht-Akademiker geöffnet. Für die berufliche Bildung wird eine Exzellenzinitiative anvisiert. Diese Zeilen im Koalitionsvertrag dürften die Handschrift von Thomas Sattelberger tragen, der zum parlamentarischen Staatssekretär im Bundesbildungsministerium ernannt wurde. Der HR-Community ist er als ambitionierter Reformer der Arbeitswelt bekannt, er ist Mitglied der "HR Hall of Fame" des Personalmagazins.
In der Weiterbildung werden Maßnahmen angekündigt, die der Wirtschaft und den Menschen helfen können. Ein Lebenschancen-BAFöG soll es Menschen mit geringem Einkommen ermöglichen, in späteren Lebensphasen Qualifizierungen nachzuholen. Die Agentur für Arbeit soll ein "Qualifizierungsgeld" als neues Instrument bekommen, der Vorrang von Arbeitsvermittlung vor der Aus- und Weiterbildung von Menschen wird abgeschafft. Für die Weiterentwicklung der Agentur für Arbeit zu einer Qualifizierungsagentur gibt es für die Wirtschaft aber eine rote Linie, die hoffentlich Beachtung findet: Die Kompetenz für Qualifizierungsbedarfe liegt in den Betrieben, weniger in der Arbeitsverwaltung.
Innovation und Experimentierräume
Die Regierung lehnt sich weit aus dem Fenster und verspricht einen "Aufbruch in ein Innovationsjahrzehnt". Anwendungsorientierte Forschung wird ausgebaut, eine "Deutsche Agentur für Transfer und Innovation" soll gegründet werden. Es wird die Schaffung von zeitlich und räumlich begrenzten Experimentierräumen angekündigt, um innovative Technologien, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle unter realen Bedingungen ausprobieren zu können. Das sind Vorstellungen der FDP – es wird sich zeigen, ob hier auch Freiräume für die Gestaltung der Arbeitswelt entstehen. Eine Reform des Arbeitszeitgesetzes wird nicht angekündigt, es soll lediglich begrenzte Möglichkeiten zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen geben. Eine Neugestaltung des Arbeitszeitgesetzes in Richtung einer größeren Flexibilisierung blockiert derzeit der Bundesarbeitsminister, nicht die Koalitionspartner.
Die beiden größten Projekte der neuen Regierung sind der Klimaschutz und die Digitalisierung. Beides sind für die Betriebe große Themen, die auch die Gestaltung der Arbeitswelt betreffen. Das Bundesarbeitsministerium dürfte dabei eher eine Nebenrolle spielen, auf die HR-Bereiche kommt über diese Vorhaben jedoch viel Arbeit zu. An der Weiterentwicklung der Geschäftsmodelle und dem Umbau der Unternehmen sollten sie sich aktiv beteiligen.
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