Entscheidungsstichwort (Thema)
Vergütungs- und Schadensersatzansprüche aus Gründen der Entgeltgleichheit. Anspruch einer Arbeitnehmerin auf ordnungsgemäße Beschäftigung. Wirksamkeit einer Befristungsabrede
Leitsatz (amtlich)
1. Sowohl § 22 AGG als auch Art. 19 RL 2006/54/EG erfordern als Beweismaß eine überwiegende Kausalitätswahrscheinlichkeit für eine geschlechtsbedingte Benachteiligung, die tatrichterlich unter Würdigung aller Umstände im Rahmen freier richterlicher Beweiswürdigung festzustellen ist. Absolute Indizien, die einen "Automatismus" im Hinblick auf die Kausalitätswahrscheinlichkeit auslösen, gibt es nicht (im Anschluss an BAG 26. Juni 2014 - 8 AZR 547/13).
2. Die Indizwirkung iSv. § 22 AGG kann nicht isoliert von der konkret behaupteten Benachteiligung und der mit dem Antrag begehrten Rechtsfolge bestimmt werden. Art. 157 AEUV bzw. § 3 Abs. 1, § 7 EntgTranspG verlangen nicht irgendein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Vergütungsdiskriminierung mit der Folge eines Anspruchs auf den maximal denkbaren Differenzbetrag ohne Betrachtung der Reichweite der konkreten Indizwirkung.
3. Steht fest, dass die Vergütung eines zum Paarvergleich herangezogenen männlichen Kollegen oberhalb des Medianentgelts der männlichen Vergleichsgruppe liegt (anders als in BAG 16. Februar 2023 - 8 AZR 450/21), besteht keine hinreichende Kausalitätsvermutung dahingehend, dass die volle Differenz des individuellen Entgelts einer Klägerin zum individuellen Entgelt des namentlich benannten männlichen Kollegen auf einer geschlechtsbedingten Benachteiligung beruht. Vielmehr ist die im Medianentgelt der männlichen Vergleichsgruppe zum Ausdruck kommende Information geeignet, die aus dem Paarvergleich folgende erste Anscheinswirkung einer geschlechtsbedingten Benachteiligung in Höhe der Differenz des Medianentgelts der männlichen Vergleichsgruppe zum individuellen Entgelt des herangezogenen Vergleichskollegen zu entkräften. Steht zudem fest, dass die individuelle Vergütung einer Klägerin unterhalb des vom Arbeitgeber konkret bezifferten Medianentgelts der weiblichen Vergleichsgruppe liegt (anders als in BAG 21. Januar 2021 - 8 AZR 488/19), besteht auch keine hinreichende Kausalitätsvermutung dahingehend, dass die volle Differenz des individuellen Entgelts der Klägerin zum Medianentgelt der männlichen Vergleichsgruppe auf einer geschlechtsbedingten Benachteiligung beruht. Die im Medianentgelt der Vergleichsgruppe des weiblichen Geschlechts zum Ausdruck kommende Information ist geeignet, die erste Anscheinswirkung einer geschlechtsbedingten Benachteiligung in Höhe der Differenz des individuellen Entgelts der Klägerin zum Medianentgelt der weiblichen Vergleichsgruppe zu entkräften. Es verbleibt dann eine überwiegende Kausalitätswahrscheinlichkeit für eine geschlechtsbedingte Benachteiligung in Höhe der Differenz der beiden Medianentgelte, wenn das Medianentgelt der männlichen Vergleichsgruppe oberhalb des Medianentgelts der weiblichen Vergleichsgruppe liegt.
4. Verteilt der Arbeitgeber freiwillig virtuelle Aktien an Führungskräfte auf einem Zuteilungsband in unterschiedlicher Höhe anhand des Kriteriums der "zukünftig erwarteten Performance", welche dem prognostizierten "Beitrag der Führungskraft zum Wertzuwachs des Unternehmens" entsprechen soll, ist der Arbeitgeber bei der verteilenden Entscheidung an den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden. § 315 BGB findet in diesem Zusammenhang keine Anwendung.
5. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist bei Differenzierungen innerhalb der begünstigten Gruppe auf den Durchschnittswert gerichtet (im Anschluss an BAG 23. Februar 2011 - 5 AZR 84/10). In diesem Umfang kann eine "Anpassung nach oben" verlangt werden, jedoch keine "Anpassung nach ganz oben" (entgegen LAG Düsseldorf 20. April 2023 - 13 Sa 535/22).
6. Verzichtet ein Arbeitgeber nach einer von ihm selbst gesetzten Regel bei der freiwilligen Verteilung virtueller Aktien bewusst auf die Anwendung des pro-rata-temporis-Grundsatzes zugunsten der Teilzeitbeschäftigten, muss er sich im Verhältnis zu einer klagenden Teilzeitbeschäftigten hieran bei Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes festhalten lassen.
Normenkette
AEUV Art. 157; RL 2006/54/EG Art. 19; GG Art. 3 Abs. 1; EntgTranspG § 3 Abs. 1, § 7; AGG § 22; TzBfG § 4 Abs. 1 S. 2; BGB §§ 315, 280 Abs. 1, 3, § 283; BetrVG § 77 Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 19.10.2023; Aktenzeichen 22 Ca 7069/21) |
Tenor
I. Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart in der Sache 22 Ca 7069/21 teilweise abgeändert und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:
- Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 9.264,00 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 01.04.2022 zu zahlen (Phantom Share Plan 2018).
- Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 16.327,11 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszin...