"Der Ausbilder ist nicht mehr der klassische Erklärbär"
Haufe Online-Redaktion: Frau Schmitz, Sie sind unter anderem Mitglied des Bildungsausschusses der DIHK, der sich auch mit der Digitalisierung der beruflichen Bildung beschäftigt. Wie weit sind die deutschen Unternehmen bei diesem Thema?
Claudia Schmitz: Es gibt Unternehmen, die schon weiter sind und solche, die sich jetzt erst mit dem Thema beschäftigten. Grundsätzlich hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan, dafür war die Pandemie ein Katalysator – allein schon, weil Auszubildende aus der Lehrwerkstatt ins Homeoffice gesetzt werden mussten und dafür ein Laptop oder andere Hardware brauchten. Das bildete die Basis dafür, in der Berufsausbildung digital arbeiten zu können. Seitdem wird unterschiedlich damit umgegangen. Einige Firmen haben ihre Azubis wieder zurückgeholt und alles läuft wie immer. Es gibt vielleicht ein bis zwei Dinge, die digital erledigt werden.
Haufe Online-Redaktion: Und die anderen?
Schmitz: Andere Unternehmen sind einen Schritt weitergegangen und setzen auf Lernplattformen, die das theoretische Wissen für die Zwischen- und Abschlussprüfungen abbilden und auch überfachliche Themen vermitteln. Da können Auszubildende in vielen Unternehmen autark lernen und zusätzliche Unterstützung finden. Auch im Intranet oder in Learning-Management-Systemen können Inhalte für Azubis dargestellt werden, die sie entweder selbstständig oder unter Anleitung abrufen können. Einige wenige Unternehmen beschäftigen sich zusätzlich mit dem Thema KI. Sie setzen sich mit dem Ausbildungsprozess auseinander und fragen sich: Was brauchen wir für die Ausbildung? Wie wollen wir Lernen neu gestalten? Wie kann uns die Digitalisierung dabei helfen?
Vorreiterunternehmen setzen sich mit dem Ausbildungsprozess auseinander und fragen sich: Was brauchen wir für die Ausbildung? Wie wollen wir Lernen neu gestalten? - Claudia Schmitz, Geschäftsführerin Intercommotion
Haufe Online-Redaktion: Kennen Sie Vorreiterunternehmen, die besonders gut aufgestellt sind?
Schmitz: Zu unseren Kunden gehören ENBW und Netze NBW. Die sehe ich als Vorreiter an, weil sich dort eine Person speziell um das Thema Lernwelten und New Learning kümmert. Sie haben auch Lernformen mit VR und AR (Virtual Reality und Artificial Reality) ausprobiert und in die Ausbildung integriert. Aber man muss auch dazu sagen, dass sie vorher schon eine sehr gute Ausbildung hatten. Sie haben zum Beispiel in ihrer Lernwerkstatt Strommasten aufgebaut, an denen Azubis zum Elektroniker für Betriebstechnik lernen, wie sie auf einen Strommast klettern und welche Sicherheitssysteme sie nutzen. Es ist nicht so, dass ein Unternehmen auf einmal die Idee hat, neue Lernformen in die Ausbildung zu integrieren. Sondern es besteht meist schon eine gute Basis.
Haufe Online-Redaktion: Können auch kleinere und mittelständische Unternehmen gute Ausbildung anbieten?
Schmitz: Auf jeden Fall. Da kann ich zum Beispiel die LV 1871 nennen, ein Versicherungsunternehmen mit rund 500 Mitarbeitenden. Die Azubis verbringen die ersten sechs Monate in einer Kreativwerkstatt. Dort arbeiten rund zehn Azubis aus unterschiedlichen Berufen an einem Projekt. Im ersten Jahr hatten sie zum Beispiel die Aufgabe, ein Angebot für Azubis und Studierende zu erarbeiten. Sie haben eine Webseite entwickelt, auf der man sich über Versicherungen informieren kann, wenn man in den Beruf startet. Hierfür mussten sie Produktinformationen sammeln, sich mit dem Programmieren von Webseiten beschäftigen und mit zahlreichen Stellen aus dem Unternehmen austauschen. Das stärkt die Zusammenarbeit.
Die neuen Rollen der Ausbilderinnen und Ausbilder
Haufe Online-Redaktion: Inwiefern haben sich die Kompetenzen, die Ausbilderinnen und Ausbilder mitbringen müssen, geändert?
Schmitz: Der Ausbilder ist nicht mehr der klassische "Erklärbär", der sich vor die Azubis stellt und ihnen zeigt wie es geht. Natürlich gibt es das weiterhin bei Sicherheitsunterweisungen und bestimmten Themen. Aber es sind neue Rollen dazugekommen. Durch die Möglichkeit, dass Wissen auf einer Lernplattform zur Verfügung gestellt werden kann, durch selbst erstellten Content oder neue Formate wie die Kreativwerkstatt, ziehen sich die Ausbilder und Ausbilderinnen zurück – und übernehmen eine neue Rolle. Sie müssen sich zum Beispiel mit der Frage auseinandersetzen: Wie lernen Menschen überhaupt? Wie können sie verschiedene Typen von Azubis beim Lernen unterstützen? Und sie müssen eine größere digitale Kompetenz entwickeln, denn sie können den Azubis nicht weiterhelfen, wenn sie selbst mit dem Lernsystem nicht klarkommen. Die Lernplattformen bietet auch die Möglichkeit, selbst Content zu erstellen. Sie benötigen also auch Content-Manger-Kompetenzen. Sie müssen Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit mitbringen und fit in Gesprächsführung und Kommunikation sein.
Der Ausbilder ist nicht mehr der klassische "Erklärbär", der sich vor die Azubis stellt und ihnen zeigt wie es geht. [...] Durch die Möglichkeit, dass Wissen auf einer Lernplattform zur Verfügung gestellt werden kann, durch selbst erstellten Content oder neue Formate wie die Kreativwerkstatt, ziehen sich die Ausbilder und Ausbilderinnen zurück – und übernehmen eine neue Rolle. - Claudia Schmitz, Geschäftsführerin Intercommotion
Haufe Online-Redaktion: Wie können diese Kompetenzen erworben werden?
Schmitz: Einige Themen lassen sich ganz normal über eine Schulung lösen, aber bei ganz vielen ist zunächst der Austausch mit anderen Ausbilderinnen und Ausbildern wichtig – auch über die Unternehmensgrenzen hinweg. Die dritte Möglichkeit ist das klassische Ausprobieren: Ich muss mir eigene Lernzeiten blocken, um mich zum Beispiel mit Chat GPT zu beschäftigen und zu überlegen, wie ich das für die Ausbildung nutzen kann. Ich muss zunächst ausprobieren, was das Tool kann. Dafür brauche ich nicht unbedingt jemanden, der mir das Tool zeigt.
Was sich für die Ausbildungsbeauftragten im Fachbereich ändert
Haufe Online-Redaktion: Die Ausbilderinnen und Ausbilder in den Unternehmen sind das eine. Das andere sind die jeweiligen Ausbildungsbeauftragten in den Fachbereichen, die jeden Tag Kontakt zu den Azubis haben. Wie können sie für zeitgemäße Wissensvermittlung befähigt werden?
Schmitz: Die Ausbildungsbeauftragten vermitteln die Inhalte aus den Fachbereichen. Nicht alles, was wir gerade gesagt haben, ist für diese Personen relevant. Sie müssen sich überlegen, was sie vermitteln wollen. Das ist meist in den Ausbildungsordnungen festgelegt. Aber genauso müssen sie sich Gedanken machen, wie sie das vermitteln: Gibt es andere Möglichkeiten, als neben den Azubis zu setzen und ihnen zu zeigen, was auf dem Bildschirm angeklickt wird? Man kann Azubis einmal zusehen lassen und sagen: Beim nächsten Mal macht ihr es selbst, erstellt einen Screenshot und bereitet für die nächsten, die kommen, ein Video vor. Die nächsten können dann ein Abkürzungsverzeichnis der Abteilung erstellen – oder ein Quiz.
Die wichtige Rolle der Personalabteilung
Haufe Online-Redaktion: Inwieweit sehen die Personalabteilungen in der Pflicht, wenn es um die Weiterentwicklung der Ausbilderinnen, Ausbilder und der Ausbildungsbeauftragen geht?
Schmitz: Viele Unternehmen haben gemerkt, dass einer der Schlüsselfaktoren für gute Ausbildung gutes Ausbildungspersonal ist. Da ist die Personalabteilung eigentlich immer in der Pflicht, Unterstützung zu bieten durch Schulungen und durch Austausch. Viele Ausbilder haben ihren Ausbilderschein vor über 20 Jahren gemacht. Das ist lange her und es heißt noch nicht, dass der Schein dazu befähigt, gute Ausbilder zu sein. Deshalb bieten wir für das ganze Ausbildungspersonal, also auch die große Zahl der Ausbildungsbeauftragten, Workshops an, in denen wir schauen, was sie aus dem Ausbilderschein brauchen und was sie darüber hinaus benötigen. Was müssen sie aus ihrem Fachbereich vermitteln und wie vermitteln sie das, angefangen von Gesprächsführung bis Feedback geben und beurteilen und bis zu neuen Lehrmethoden. Das ist je nach Fachbereich sehr unterschiedlich.
Der Ausbilderschein befähigt nicht unbedingt dazu, ein guter Ausbilder zu sein. Die Personalabteilung muss Unterstützung geben. - Claudia Schmitz, Geschäftsführerin Intercommotion
Das zweite Thema ist wie schon gesagt der Austausch. Wir erleben, dass diese Personen geradezu nach Austausch lechzen, weil sie eine Zielgruppe vor sich haben, mit der sie kaum zurechtkommen. Die stellen kritische Fragen, geben ungefragt Feedback und sind manchmal besser in der Anwendung von IT-Systemen. Deshalb wollen sie erfahren, wie das andere machen – egal ob sie aus dem eigenen oder einem anderen Bereich kommen. Auch bei der Ermöglichung von Austausch sehe ich die Personalabteilung in der Pflicht. Das hat auch mit der Bindung an das Unternehmen zu tun: Wenn die Ausbildung nicht gut ist, brechen viele Azubis einfach ab.
Haufe Online-Redaktion: Hat die duale Ausbildung Zukunft?
Schmitz: Berufe werden immer akademisierter, deshalb sagen viele Menschen, dass die Berufsausbildung keine Zukunft hat. Wenn wir uns aber anschauen, wo wir den größten Fachkräftemangel haben, so tritt dieser vor allem in den Berufen auf, die als Grundvoraussetzung eine Ausbildung haben. Ich glaube, dass sich die duale Berufsausbildung stark verändern wird und dass es auch neue Wege geben wird, die eher einen akademischen Touch bekommen. Schon heute ist ein Meister- mit dem Bachelorabschluss gleichgestellt. Was es aber immer geben wird ist die Form der dualen Berufsausbildung – das Lernen im Betrieb und in der Schule. Es wird immer Berufseinsteiger geben, die erst einmal den Beruf erlernen müssen. Es gibt nicht viele Berufe, in denen Leute nur mit einem Schulabschluss oder direkt von der Hochschule kommend einsteigen können. Deshalb wird es das duale System immer geben. Allerdings müssen sich auch die Berufsschulen weiterentwickeln – nicht nur die Ausbildungsbetriebe.
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Interessant! Neue Lerntechnologien sind super, aber wie wird die grundlegende Ausbildungsqualität nach best practice sichergestellt?
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich nicht alle Lernenden für Lernplattformen affin zeigen. Insbesondere sind dies die handwerklichen Bereiche, welche z.B. auch in der Corona-Zeit unter erschwerten Bedingungen auf den Projekten weiter arbeiten mussten.
Die Berufsbildung hat auf jeden Fall Zukunft und muss weiterhin gestärkt werden. Aus diesem Grund haben wir in der Schweiz einen neuen Leitfaden nach best practice erstellt: Die "Charta Berufsbildung - Erfolgsmodell für eine qualitätsbasierte Berufausbildung".
In die Charta sind über 60 Jahre Erfahrung in der Berufsbildung eingeflossen und wird bei uns neu in die Normenlandschaft von SN EN IS 9001-Zertifizierungen eingepflegt.
https://igbb.ch/die-charta-berufsbildung-einfach-erklaert/
Zu meinen Fragen:
- Könnte dies für Deutschland auch interessant sein? (wir haben bereits ein paar Anfragen)
- Wie sehen die KPI's der Berufsausbildung in Deutschland aus, bezüglich Abbruchquoten, Berufswechsel, Erfolgsquoten an den Abschlussprüfungen?
Herzlichst
Rolf Siebold
vielen Dank für diesen Kommentar. Grundsätzlich geht es bei der Veränderung der Rolle der Ausbildenden als auch neue Kompetenzen nicht darum, nur noch digital auszubilden. Ähnliche Erfahrungen in Pandemiezeiten haben viele Ausbildungsbetriebe gesammelt.
Zum einen empfehle ich die Ausbildung auf der grünen Wiese zu betrachten und sich zu überlegen, welche Ausgelernten wollen wir nach der Ausbildung haben. Was sollen sie können? Welche Kompetenzen benötigen sie?
Und im nächsten Schritt zu überlegen, welche Methoden, Tools und auch (Hand-)Werkzeuge, als auch Lernorte werden dafür benötigt. Beispielsweise gibt es Inhalte, die teilweise durch Animationen auf Lernplattformen auch für handwerkliche Bereiche interessanter aufbereitet sind als durch einen Vortrag eines Ausbildenden bzw. Berufsschullehrenden.
Die Charta schaue ich mir bei Gelegenheit mal genauer an und bin mir sicher, dass sie auch für deutsche Unternehmen Inspiration bieten wird.
KPIs zu den gewünschten Themen finden Sie immer sehr gut im Berufsbildungsbericht, der jährlich erscheint. Abbrecherquoten sind aus meiner Erinnerung immer ein Thema und mit Zahlen hinterlegt.
Grüße, Claudia Schmitz