E-Learning: Fortschritt trotz Stillstand

Die Corona-Pandemie verhilft dem digitalen Lernen zum Durchbruch. Es scheint gut zu stehen um die E-Learning-Wirtschaft. Doch die wirtschaftlichen Folgen der Krise setzen den Unternehmen zu. Das schlägt bis zu den E-Learning-Anbietern durch.

Spätestens seit der internationale E-Learning-Konzern Skillsoft vor einem Gericht in Delaware (USA) am 15. Juni Insolvenzschutz beantragt hat und dafür Einbußen wegen der Covid-19-Pandemie mitverantwortlich machte, dürfte klar sein, dass nicht jeder E-Learning-Anbieter die Krise als Chance nutzen kann. Viele, darunter internationale Konzerne ebenso wie kleinere deutsche Anbieter, reagierten schnell auf den Lockdown und schalteten kostenlose Schulungen live, darunter Webinare, Web Based Trainings und Standardkurse rund um Homeoffice, Resilienz, Führen auf Distanz oder Infektionsschutz. Andere entwickelten besondere Angebote für Kunden und Neukunden in der Hoffnung, wäre die Krise endlich vorbei, würde digitales Lernen boomen und die Kunden bleiben. In ersten Umfragen, über die die "Wirtschaft und Weiterbildung" im Mai berichtetet, gab sich die Branche positiv. Doch wie sieht die Situation nach drei Monaten mit Kontaktbeschränkungen und ersten wirtschaftlichen Folgen aus?

E-Learning-Anbieter erkennen Nachholbedarf

Zu den prominentesten deutschen Anbietern von E-Learning-Systemen zählt die IMC AG in Saarbrücken. Dort erlebt man allerdings sehr unterschiedliche Reaktionen der Kunden auf die Krise, berichtet Sven R. Becker, Vorstand für Vertrieb und Marketing. In den ursprünglichen Kernbranchen Tourismus, Aviation und Logistik geschehe in Deutschland aktuell gar nichts mehr, alle Projekte seien gestoppt. International sieht Becker durchaus Mentalitätsunterschiede. Während der eine in Schockstarre verharre, verhalte sich ein Unternehmen der gleichen Branche in einem anderen Land ganz anders. Eine asiatische Hotelkette beispielsweise habe den Laden nicht einfach dicht gemacht, sondern sich entschlossen, die Zeit der Schließung der Hotels mit Lernangeboten für die Mitarbeitenden zu überbrücken.

Gleichzeitig hat die IMC selbst auf die Krise reagiert und das Angebot angepasst. So habe man zum Beispiel Kunden angeboten, ihre Kosten zu reduzieren. "Wir haben innerhalb von drei Monaten einen zweistelligen Kundenbereich in die Cloud überführt", sagt Becker. "Sonst machen wir das nur bei zwei bis drei Kunden im Jahr." Außerdem hat man die Eintrittsbarriere für Neukunden gesenkt, sowohl was die Komplexität des Themas angeht als auch den Preis. Statt jede Lernumgebung speziell auf einen Kunden abzustimmen, was normalerweise eine Reihe von Workshops mit sich bringt, hat man den vorhandenen Erfahrungsschatz genutzt, Daten und Konfigurationen analysiert und industriespezifische Templates für die Lernplattform zusammengestellt, um fertige Module anbieten zu können. "Damit reduzieren wir den Projektpreis und die Komplexität", fasst Becker das Ergebnis zusammen. Man werde aktuell zwar nicht das vor der Pandemie angestrebte Wachstum erreichen, aber im Moment seien die Zahlen positiv.

Kollaborationstools werden auch im Learning wichtiger

Um etwas andere Dimensionen geht es bei Cornerstone On Demand. Der US-Konzern hatte gerade erst den Konkurrenten Saba für 1,3 Milliarden Dollar übernommen, als der Lockdown die eigenen wie die Mitarbeitenden der Kunden ins Homeoffice verbannte. In der Bilanzpressekonferenz des an der New Yorker Nasdaq gelisteten Unternehmens gab dessen designierter CEO Phil Saunders Anfang Mai bekannt, dass man erwarte, die Einnahmen durch die Krise hindurch weiter zu steigern, wenn auch langsamer als zuvor. Demnach hätten die Kunden auch diejenigen Schulungen – von Führungskräftetrainings bis Onboarding – ins digitale Lernen verlegt, die bislang als Präsenztrainings stattfanden.

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Im März vermeldete Cornerstone mit 27 Millionen Stunden die höchste Anzahl von Schulungsstunden in seiner Geschichte. Mit Kunden in den verschiedensten Branchen sieht man sich gut aufgestellt. Nicht nur in der Industrie, die gelitten hat, sondern auch im Bereich Pharma, Gesundheit und Retail ist Cornerstone stark vertreten. Mit dem Portal "Cornerstone Cares" hat der Learning-Riese direkt auf die Pandemie reagiert und Lerninhalte zu Covid-19, Stressmanagement und Remote Working in fünf Sprachen zur Verfügung gestellt. Nach einer Registrierung stehen diese Lerninhalte kostenlos zur Verfügung, entweder direkt auf dem Portal oder für Kunden in ihren eigenen Cornerstone-Lösungen, berichtet Geoffroy de Lestrange, Product Marketing und Communication Director EMEA mit Sitz in Paris.

De Lestrange spürt bei seinen Kunden die Einsicht in die Notwendigkeit von Weiterbildung und sieht die Entwicklung des Marktes optimistisch, auch wenn Investitionen verschoben werden: "Meine Hoffnung ist, dass viele Unternehmen gesehen haben, dass die digitale Transformation der Personalabteilung einfach dringend notwendig ist. Und vielleicht noch dringender in Deutschland, wenn ich das sagen darf." Auf den Trend zum kollaborativen Lernen in Kollaborationstools wie Microsoft Teams, wie ihn beispielsweise auch der britische Marktanalyst Fosway beschrieben hat, habe Cornerstone früh reagiert: "Wir integrieren uns in Salesforce oder Slack. 'Learning in the flow of work' bedeutet für uns, direkt in diesen Plattformen Lerninhalte anzubieten und zu triggern, zum Beispiel auch durch künstliche Intelligenz."

Digitales Lernen: Quantität statt Qualität wird zur Gefahr

Die Weiterbildungslandschaft in Deutschland ist immer noch stark geprägt von Anbietern, die von Präsenztrainings leben. Sie waren vom Lockdown besonders betroffen, als plötzlich alle Präsenzveranstaltungen abgesagt werden mussten. Einige haben ihr Angebot schnell in den virtuellen Raum verlegt. Für die Haufe Akademie in Freiburg war die Absage der Präsenzseminare zwar auch schmerzlich, sie wächst aber bereits seit Jahren vor allem im Bereich der Online-Trainings und hat ihr digitales Angebot an Content und Lernplattformen stark ausgebaut.

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Christian Friedrich, Mitglieder der Geschäftsführung Digital Learning Solutions der Haufe Akademie, sieht die Folgen der Pandemie für die E-Learning-Branche sowohl positiv wie negativ. Wie andere auch habe man zu Beginn der Pandemie innerhalb von drei Wochen mehrere kostenlose Angebote in den Markt gestellt, unter anderem auf Basis der hauseigenen Haufe-Learning-Experience-Plattform für selbstgesteuertes Lernen. Obwohl als "Silent Launch" nicht öffentlich beworben, hätten sich binnen vier Wochen 10.000 Nutzer auf der Plattform registriert. Die Resonanz sieht Friedrich als Beweis für die große Bereitschaft, sich weiter qualifizieren zu wollen und vorhandene Angebote anzunehmen. Auch Kunden im offenen Programm, deren Seminare nicht durchgeführt werden konnten, stand es frei, die Plattform und die darauf vorhandenen Inhalte zu nutzen. Die Teilnehmerzahl der Plattform habe sich bis Mitte Juni auf 7.500 aktive User eingependelt. Gleichzeitig gibt die Haufe Akademie an, bei den Unternehmenskunden um starke 70.000 digital Lernende gewachsen zu sein. Für die Unternehmenskunden wurden demnach ähnlich wie bei der IMC AG spezielle Pakete aus Inhalten und technischer Plattform geschnürt und zu einem Bruchteil der Normalkosten auf den Markt gebracht. Dieses Angebot für mittelständische Unternehmen, die bislang keine E-Learning-Lösung haben, werde sehr positiv aufgenommen, schildert Friedrich die Rückmeldungen.

Weniger positiv sieht der E-Learning-Experte die Masse an digitalen Lernangeboten, die mehr oder weniger eine Eins-zu-Eins-Kopie von Präsenztrainings sind und die jetzt den Markt überschwemmen. Auseinanderzuhalten was qualitativ hochwertige, digitale Lerninhalte sind und was nicht, fällt gerade denjenigen Unternehmen schwer, für die das Thema neu ist. Machen sie jetzt schlechte Erfahrungen mit digitalem Lernen als Qualifizierungsformat, kann das nachwirken bis in die Zeit nach Corona. Darin sieht Friedrich eine Gefahr für die positive Entwicklung des Marktes: "Es wird sicherlich stark davon abhängen, welche Erfahrungen Unternehmen jetzt machen. Verbrannte Erde ist erst einmal verbrannte Erde. Wenn ich aus meiner Organisation schlechtes Feedback bekomme, weil ich am realen Bedarf vorbei agiere, dann werde ich beim zweiten Wurf mehr Schwierigkeiten haben. Der sinnbefreite Kulturkampf zwischen Präsenztraining und digitalem Lernen muss der konsequenten Nutzenbetrachtung weichen."

Kostengünstige Lernangebote gefragt

Viele Unternehmen haben bei ihren Mitarbeitenden schon vor der Krise damit geworben, ihnen das Lernen auf Linkedin Learning zu ermöglichen. Die Kurse, die in Form von Videos auf der Lernplattform der Microsoft-Tochter angeboten werden, sind beliebt und günstig. Viele Unternehmen erwerben Lizenzen und binden das Angebot in die hauseigene Lernplattform ein. Seit Beginn der Pandemie sind die Zugriffe stark gewachsen. Zwischen März und Mai sei die Stundenzahl der mit Linkedin Learning verbrachten Kurse um 140 Prozent gegenüber den Vormonaten gestiegen. Im Mai 2020 sei die Zeit der mit dem Kursmaterial verbrachten Stunden fünfmal so hoch gewesen wie im Mai 2019, meldet das Unternehmen auf Anfrage. Als Reaktion auf die steigende Nachfrage und um alle, die sich zu Hause in einer neuen Arbeitssituation befinden, zu unterstützen, hat Linkedin weltweit über 440 Online-Kurse über seine Learning-Plattform für die kostenlose Nutzung freigeschaltet. Das kommt an: Bei den Führungskräften sei die Nutzungsdauer um 129 Prozent gestiegen, beim C-Level um 100 Prozent. Die besonders aktiven Nutzer kommen demnach aus den Abteilungen Vertrieb, Verwaltung und Personalwesen. "Unternehmen setzen auf kostengünstige digitale Lernangebote", lautet denn auch das Fazit einer neuen Linkedin-Learning-Umfrage mit dem Titel "Erfolg durch Weiterbildung". Demnach gehen 60 Prozent der 864 befragten Personalentwicklungs-Verantwortlichen aus aller Welt davon aus, zukünftig stärker in E-Learning zu investieren, 66 Prozent wollen mehr Geld für virtuelle Live-Schulungen wie Webinare ausgeben. Gleichzeitig gehen 61 Prozent der Befragten davon aus, dass die Budgets für Präsenzschulungen schrumpfen werden.

Wer die Einstiegskosten senkt, liegt vorn

Ähnlich optimistisch wie  die Linkedin-Umfrage beurteilte im Mai der britische Analyst Fosway den Markt und die Reaktion der Kunden. Covid-19, lautet der Ausblick von Fosway-Analyst Wilson, werde eine positive Wirkung auf die Branche und auf die Marktpreise haben. Es gebe Herausforderungen wie Kunden, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können, und Projekte, die gestoppt werden. Insgesamt aber beschleunige die Krise den Wandel. Für die Anbieter sei es jetzt wichtig, ihren Cashflow am Leben zu halten. Dies sei ein kritischer Punkt und nicht alle würden es überleben. Auch gebe es den Druck, die Strategie anzupassen. Aber immerhin seien die Kunden gezwungen, digitaler zu werden. "Die kritischen Fragen sind: Können Sie Aufträge sehr schnell umsetzen, ausführen und in wenigen Wochen etwas liefern? Jetzt profitiert, wer schnell liefern und implementieren kann, um Probleme zu lösen. Das hat die oberste Priorität", sagt Wilson. Wer jetzt die Einstiegskosten für die Kunden senken könne, werde am Ende schneller wachsen.

Insgesamt, das zeigen die Gespräche, Studien und Umfragen, hat die Corona-Pandemie und der damit verbundene Lockdown digitales Lernen in Unternehmen vorangebracht. Nie gab es so viele Webinare, fanden und finden so viele Weiterbildungsveranstaltungen im virtuellen Raum statt. Im Homeoffice waren zudem viele Beschäftigte darauf angewiesen, sich selbst zu helfen und auf Tools zurückzugreifen, die sie auch im privaten Alltag nutzen, um Probleme zu lösen und Antworten auf drängende Fragen zu finden. Folgerichtig stehen Webinare und Videos auf den Trendlisten der jetzt genutzten Tools ganz oben. Selbst wenn jetzt wieder Präsenztrainings starten und nachgefragt werden, haben viele Unternehmen erkannt, dass sie in digitales Lernen investieren müssen, um ihre Weiterbildungslandschaft ebenso zukunftsfähig aufzurüsten wie ihre Mitarbeitenden mit den benötigten Kompetenzen auszustatten. Sie profitieren davon, dass einige Anbieter Lösungen entwickelt haben, die im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie günstig und schnell zu implementieren sind, sodass die Eintrittsbarriere gesunken ist. Eine große Chance liegt darin, dass sich der Markt erweitert, dass neue Zielgruppen, die bislang nicht in digitales Lernen investiert haben, diese Form des Lernens für sich entdecken und darin investieren. Viele Anbieter, darunter bislang auf das Präsenzgeschäft ausgerichtete Weiterbildungsanbieter ebenso wie bisherige Schwergewichte der E-Learning-Branche, müssen sich allerdings auf harte Konkurrenz einstellen. Denn viele Anbieter haben neben den großen Konzernen endlich auch die mittleren und kleinen Unternehmen als vielversprechende Kunden für sich entdeckt.


Dieser Text ist in ungekürzter Fassung in Personalmagazin 09/2020 erschienen. Lesen Sie in der Ausgabe mit dem Schwerpunkt "E-Learning" auch, was Sie bei der digitalen Lernstrategie beachten müssen, wie Lernen mit Gamification gelingt und wie die Anbieter von Präsenzschulungen auf die Krise reagieren. Den gesamten Schwerpunkt sowie das übrige Heft gibt es auch in der Personalmagazin-App.


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Schlagworte zum Thema:  E-Learning, HR-Software