Transformationale Führung: What's next?
Transformationale Führung steht ausgehend von den grundlegenden Studien von Bernhard M. Bass (1985) seit mehreren Jahrzehnten im Fokus der Führungsforschung und erfreut sich in der Unternehmenspraxis ebenfalls seit Jahren großer Beliebtheit. Nach erfolgreichen Ereignissen im Fußball erscheinen regelmäßig Vereins- und Bundestrainer in der Personal- und Wirtschaftspresse als Vorbilder für Führungskräfte in Unternehmen. "Warum Vorgesetzte vom Borussia-Trainer lernen können", titelte das Personalmagazin bereits 2013 mit Bezug auf Jürgen Klopp, der 2019, als Trainer in Liverpool, auch das Titelblatt des Manager Magazins zierte. Besonders prominent führte die Deutsche Bahn die transformationale Führungskultur ein, begleitet durch einen grundlegenden Veränderungsprozess (Mollenhauer/Sommerlatte, 2016).
Transformationale Führung als Endpunkt der Leaderhsip-Forschung?
Wie die Praxis scheint auch die Führungsforschung mit der transformationalen Führung ihren konzeptionellen Abschluss gefunden zu haben. Bereits früh propagierten Bruce J. Avolio und Bernhard M. Bass (1991) ein "full range of leadership"-Programm, das abschließend mögliche Führungsstile aufzeigt und bezüglich deren Effektivität bewertet. Neben Laissez-faire und transaktionaler Führung bilden vier Dimensionen transformationaler Führung den Endpunkt gelungener Führung. Auch in der Praxis hat sich die von Bernhard M. Bass und Ronald E. Riggio (2006) initiierte Darstellung (siehe Abbildung 1) weit verbreitet (zum Beispiel Jackenkroll, 2016), wobei jedoch sowohl die Bezeichnungen als auch die Anordnung bezüglich der Effektivität der einzelnen Dimensionen transformationaler Führung variieren. Im Grundlagenwerk "Transformational Leadership" erfolgt hingegen keine isolierte Bewertung der Effektivität der einzelnen Dimensionen transformationaler Führung, sondern es wird lediglich eine Kategorie "4 I's" gebildet (Bass/Riggio, 2006, S. 9).
Gleichzeitig wird Kritik geäußert, ob nicht innovativere Führungsstile effektiver sind. Und in der Tat zeigen Bruce J. Avolio und Kollegen (2009) in einem Überblicksartikel über neue Forschungsansätze eine ganze Reihe neuer Führungsstile auf, wie dienende oder authentische Führung. Hat die transformationale Führung ausgedient?
Was ist transformationale Führung und wie lässt sie sich messen?
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wollen wir die Effektivität transformationaler Führung und etwaiger Weiterentwicklungen näher betrachten. Dabei gehen wir insbesondere den folgenden Fragen nach: Wie effektiv ist transformationale Führung und welche Dimensionen transformationaler Führung haben die größte Auswirkung? Weisen neue Führungsstile eine größere Effektivität auf? Hier gehen wir insbesondere auf ethische, authentische und dienende Führung ein, wobei wir uns auf eine aktuelle Metaanalyse von Julia E. Hoch und Kollegen (2018) und die Kritik am Ansatz transformationaler Führung von van Knippenberg und Sitkin (2013) beziehen. Dabei konzentrieren wir uns auf die durchschnittlichen Effekte und gehen nicht auf Moderatoren ein, die im Rahmen situativer Führungstheorien große Bedeutung haben.
Kerndimensionen nach dem Multifactor Leadership Questionnaire (MLQ)
Die Messung des Führungsstils erfolgt in der Regel durch die Einschätzung der direkten Mitarbeiter, wobei sich international und in Deutschland der Multifactor Leadership Questionnaire (MLQ) als Messinstrument durchgesetzt hat (Felfe, 2006), der neben transformationaler auch transaktionale und Laissez-faire-Führung abdeckt. Für die transformationale Führung werden vier Kerndimensionen unterschieden:
- idealisierter Einfluss
- inspirierende Motivation
- intellektuelle Anregung
- individuelle Berücksichtigung
Empirisch ist die Faktorstruktur allerdings nicht ganz eindeutig und hat sich im Zeitverlauf weiterentwickelt. In der deutschen Fassung des MLQ (Felfe, 2006) finden sich fünf transformationale Dimensionen und ergänzend eine Dimension für charismatische Führung (siehe Abbildung 2).
Effektivität transformationaler Führung
In seinem Grundlagenwerk zur transformationalen Führung argumentierte Bernhard M. Bass (1985), dass transformationale Führung effektiver sei als die weit verbreitete transaktionale Führung. Empirisch wurde diese Annahme durch die Metaanalyse von Timothy A. Judge und Ronald F. Piccolo (2004, S. 759) bestätigt, wonach transformationale Führung mit einer Korrelation von r = 0,44 einen leicht höheren Zusammenhang mit Erfolgsgrößen aufweist als transaktionale Führung in Form von ziel- und leistungsabhängigen Belohnungen (contingent rewards), die eine Korrelation von 0,39 aufweist.
Allerdings ist der Unterschied zwischen den beiden Führungsansätzen nicht sonderlich groß und zudem ist eine Kombination der beiden Ansätze möglich. In einer aktuellen Metaanalyse von Hoch und Kollegen (2018) zeigt sich ein positiver Einfluss transformationaler Führung, wobei die Effektstärke unter anderem von der Messgröße abhängt, mit der Führungserfolg gemessen wird: Transformationale Führung wirkt mittelstark auf die Arbeitsleistung (r = 0,27), beeinflusst die allgemeine Arbeitszufriedenheit stärker (r = 0,42) und übt den größten Einfluss auf die Zufriedenheit mit der Führungskraft (r = 0,80) und auf die wahrgenommene Effektivität der Führungskraft aus (r = 0,79).
Dimensionen und deren Effektivität
Eine nähere Betrachtung der einzelnen Dimensionen transformationaler Führung unternehmen Uldarico R. Dumdum und Kollegen (2013). Die wesentlichen Ergebnisse sind in Abbildung 3 dargestellt. Es zeigt sich, dass alle fünf untersuchten Dimensionen hohe Korrelationen mit der Effektivität der Führung aufweisen, die korrigierte Korrelation liegt durchgängig über 0,5, wobei die Effektstärken in einem vergleichsweise engen Band liegen (zwischen 0,52 und 0,66). Es lässt sich somit eine leicht höhere Bedeutung von zugeschriebenem Charisma (r = 0,66) und idealisierter Einflussnahme (r = 0,66) nachweisen, letztlich sind aber alle fünf Dimensionen sehr bedeutsam für den Erfolg der Führungskraft.
Kritik am Ansatz der transformationalen Führung
Die transformationale Führung gehört zu den prominentesten und am besten untersuchten Führungsstilen, insofern verwundert es kaum, dass auch Kritik am Ansatz geäußert wurde. Die Kernpunkte dieser Kritik haben Daan van Knippenberg und Sim Sitkin (2013) in einem vielbeachteten Beitrag zusammengefasst. Ein erster Kritikpunkt betrifft die oben angesprochene Messung der einzelnen Dimensionen von transformationaler Führung. Augenscheinlich beinhalten diese Dimensionen verschiedene Aspekte der Führung. So sollte es nicht selten Führungskräfte geben, die zum Beispiel über viel Charisma verfügen, sich gleichzeitig aber nicht durch eine individuelle Berücksichtigung der einzelnen Mitarbeiter auszeichnen. Theoriekonform wäre also anzunehmen, dass die einzelnen Dimensionen nicht besonders hoch korreliert sein sollten – eben weil sie verschiedene Facetten der transformationalen Führung abdecken.
Empirische Studien zeigen dagegen sehr hohe Korrelationen zwischen den Dimensionen. So zeigen Lowe, Kroeck und Sivasubramaniam in einer Metaanalyse bereits 1996, dass die einzelnen Dimensionen teilweise über r = 0,80 miteinander korreliert sind, was die Unterschiedlichkeit der gemessenen Dimensionen infrage stellt. Entsprechend haben in der Folge viele Forscher die verschiedenen Dimensionen zu einem Faktor zusammengefasst, ohne spezifisch auf die einzelnen Dimensionen einzugehen.
Unklare Trennung von Ursache und Wirkung?
Als zweiten Kritikpunkt nennen van Knippenberg und Sitkin (2013) die unzureichende theoretische Grundlage für die Kausalbeziehungen zwischen den Dimensionen transformationaler Führung und den verschiedenen Ergebnisgrößen wie zum Beispiel der Teameffektivität. Wie genau wirken die verschiedenen Dimensionen zusammen, um eine höhere Teamleistung oder Zufriedenheit zu erzielen? Hier schließt sich der dritte Kritikpunkt an, da die Gefahr besteht, Ursache und Wirkung miteinander zu verwechseln. Die zumeist sehr hohen Korrelationen zwischen transformationaler Führung und der Zufriedenheit mit der Führungskraft lassen vermuten, dass der Führungskraft die verschiedenen positiv besetzten Eigenschaften einer transformationalen Führungskraft besonders dann zugeschrieben werden, wenn man mit dem Führungsstil zufrieden ist, selbst wenn das konkrete Führungsverhalten tatsächlich weniger Elemente transformationaler Führung enthält. Wie oben beschrieben, lassen sich zudem die verschiedenen Dimensionen in den empirischen Messungen nicht klar unterscheiden, was ebenfalls auf diese umgekehrte Kausalität hindeutet: Die Führungskraft wird als transformational eingeschätzt, weil sie beliebt ist – und nicht umgekehrt. Diese unklare Trennung von Ursache und Wirkung spiegelt sich auch im letzten von van Knippenberg und Sitkin (2013) angeführten Kritikpunkt wider. Auch wenn das Konzept der transformationalen Führung intuitiv sinnvoll erscheint, mangelt es an konzeptuell klarer Abgrenzung des Führungsstils von dessen Folgen.
Es gibt kein Allheilmittel oder eine magische Alternative in der Führungstheorie, welche diese Kritikpunkte alle beseitigen würde. Aber auch wenn diese Kritikpunkte alle valide sind, ist der transformationalen Führung dennoch in der Gesamtschau ein positiver Effekt zuzuschreiben. Im folgenden Abschnitt bauen wir darauf auf und diskutieren neuere Führungsansätze, die als Ersatz oder Ergänzungen zur transformationalen Führung eingeführt wurden.
Effektivität neuer Führungsstile
Können neue Führungsstile die Effektivität der Führung erhöhen? Dieser Frage gehen Julia E. Hoch und Kollegen (2018) nach, indem sie den zusätzlichen Erklärungsbeitrag authentischer, dienender und ethischer Führung gegenüber transformationaler Führung untersuchen. Methodisch wenden sie dabei lineare Mehrfachregressionen an, das heißt, ausgehend von der Korrelation zwischen transformationaler Führung und Erfolgsgrößen ergänzen sie die weiteren Führungsstile als erklärende Variable und messen deren zusätzlichen Erklärungsbeitrag.
Dabei zeigt sich für alle drei untersuchten Führungsstile zwar ein positiver zusätzlicher Erklärungsbeitrag, der allerdings durchgängig sehr klein ist, aber wiederum stark in Abhängigkeit von der betrachteten Ergebnisgröße variiert. Der größte Einfluss zeigt sich bei dienender Führung, deren Effektivität darüber hinaus dann besonders stark ausgeprägt ist, wenn Arbeitszufriedenheit und Commitment zur Organisation als Erfolgsgrößen herangezogen werden. Der zusätzliche Erklärungsbeitrag authentischer und ethischer Führung ist hingegen sehr gering. Die Autoren ziehen hieraus die Schlussfolgerung, dass die Förderung dieser beiden Führungsstile in der betrieblichen Praxis weniger nützlich ist, es sei denn man ist an der Beeinflussung besonders spezifischer Verhaltensweisen unter den Mitarbeitern interessiert (zum Beispiel deviantes Verhalten).
Sind die neuen Führungsstile wirklich neu?
Ausgehend von diesen Befunden stellen sich die Autoren die Frage, ob es sich bei den als neuartig und innovativ propagierten Führungsstilen tatsächlich um Innovationen handelt. Diese Betrachtungsweise ist über die hier analysierten Fälle für die betriebliche Personalarbeit grundsätzlich relevant, wenn man vor der Frage steht, ob es sich gerade um eine langfristige Veränderung der Führungseffektivität, einen kurzfristigen Trend oder lediglich um eine Namensänderung im Sinne von "alter Wein in neuen Schläuchen" handelt.
Methodisch erfolgt dies durch die Analyse der Korrelationen zwischen den gemessenen Führungskonstrukten, mit deren Hilfe Überlappungen in den Führungsstilen identifiziert werden können. Es zeigt sich eine sehr große Korrelation zwischen transformationaler Führung und sowohl authentischer Führung (r = 0,75) als auch ethischer Führung (r = 0,70), wohingegen dienende Führung nur moderat mit transformationaler Führung einhergeht (r = 0,52). Daraus lässt sich folgern, dass die ethische und authentische Führung nicht klar vom Konzept der transformationalen Führung getrennt werden können und ihr Beitrag zur Weiterentwicklung der Führungsforschung und Führungspraxis kritisch beurteilt werden muss.
Zusammenfassung und Handlungsempfehlungen
- Transformationale Führung ist übergreifend der effektivste Führungsstil, allerdings nur mit geringem Abstand vor transaktionaler Führung in Form von ziel- und leistungsabhängigen Belohnungen. Eine Kombination der beiden Führungsstile erscheint sinnvoll.
- Die einzelnen Dimensionen transformationaler Führung tragen alle zur Effektivität bei. Eine klare Hierarchie lässt sich empirisch nicht nachweisen.
- Das Konzept der transformationalen Führung wird zunehmend kritisch gesehen. Problematisch sind die empirisch nicht abgrenzbaren Dimensionen, fehlende konzeptuelle Klarheit sowie die Vermischung von Führungsverhalten und Führungserfolg.
- Authentische und ethische Führung leisten keinen wesentlichen Erklärungsbeitrag zum Führungserfolg jenseits der transformationalen Führung. Sie sind zudem hoch korreliert mit transformationaler Führung und stellen somit nur bedingt originär neue Führungsstile dar.
- Dienende Führung hingegen lässt sich von transformationaler Führung abgrenzen und kann einen zusätzlichen Beitrag zur Erklärung von Führungserfolg liefern.
Literaturverzeichnis:
Avolio, B. J./Bass, B. M. (1991): The full range of leadership development programs: Basic and advanced manuals. Binghamton: Bass, Avolio & Associates.
Avolio, B. J./Walumbwa, F. O./Weber, T. J. (2009): Leadership: Current theories, research, and future directions. Annual review of psychology, 60, 421-449.
Bass, B. M. (1985): Leadership and performance beyond expectations. Collier Macmillan.
Bass, B. M./Riggio, R. E. (2006): Transformational Leadership, 2. edt., New Jersey: Lawrance Erlbaum.
Dumdum, U. R./Lowe, K. B./Avolio, B. J. (2013): A meta-analysis of transformational and transactional leadership correlates of effectiveness and satisfaction: An update and extension. In: Avolio, B.J./ Yammariono, F. Y. (edts.): Transformational and Charismatic Leadership: The Road Ahead 10th Anniversary Edition Emerald Group Publishing Limited, 39-70.
Felfe, J. (2006): Validierung einer deutschen Version des "Multifactor Leadership Questionnaire" (MLQ Form 5 x Short) von Bass und Avolio (1995). Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie A&O, 50(2), 61-78.
Hoch, J. E./Bommer, W. H./Dulebohn, J. H./Wu, D. (2018): Do ethical, authentic, and servant leadership explain variance above and beyond transformational leadership? A meta-analysis. Journal of Management, 44(2), 501-529.
Jackenkroll, B. (2016): Deckt das Full Range of Leadership-Modell tatsächlich das gesamte Spektrum an Führungsverhalten ab? https://www.wissensdialoge.de/full_range_leadership/ (Abruf 21.06.2019)
Judge, T. A./Piccolo, R. F. (2004): Transformational and transactional leadership: a meta-analytic test of their relative validity. Journal of applied psychology, 89(5), 755.
Lowe, K. B./Kroeck, K. G./Sivasubramaniam, N. (1996): Effectiveness correlates of transformational and transactional leadership: A meta-analytic review of the MLQ literature. The Leadership Quarterly, 7(3), 385-425.
Mollenhauer, M./Sommerlatte, T. (2016): Transformationale Führung – vorleben und Inspirieren: Deutsche Bahn. In: Sommerlatte, T./ Keuper, F. (edts.): Vertrauensbasierte Führung. Springer Gabler, Berlin, Heidelberg, 93-97.
Van Knippenberg, D./Sitkin, S. B. (2013): A critical assessment of charismatic-transformational leadership research: Back to the drawing board? The Academy of Management Annals, 7(1), 1-60.
Dieser Beitrag ist erschienen im Wissenschaftsjournal PERSONALquarterly 4/2019. Die gesamte Ausgabe zu Corporate Entrepreneurship können Sie hier lesen.
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