Unternehmenskultur als Werkzeug der Krisenbewältigung
"Ich habe unterschätzt, was da kommt", sagt Ulrich Irnich über die Coronakrise. Im März 2020 wurden die Mitarbeiter von Vodafone quasi über Nacht ins Homeoffice geschickt und die Shops dichtgemacht. Für Irnich, Vodafones IT-Chef, war das eine harte Zeit: Die Kommunikations- und Distributionskanäle mussten stabil gehalten, neue Geräte aus- und alte umgerüstet werden. Die Kollegen in den Niederlassungen und Ladengeschäften mussten schließlich alle ad hoc über Telefon und Chat erreichbar gemacht werden.
Vodafone und Unitymedia: zwei Unternehmenskulturen wachsen zusammen
Für Vodafone, eines der größten europäischen Kommunikationsunternehmen, kam die Pandemie zu einem denkbar herausfordernden Zeitpunkt: Erst im Mai 2019 hatte das Management damit begonnen, mit Unitymedia das deutsche Kabelgeschäft von Liberty Global zu übernehmen. Nachdem die Europäische Kommission den Zusammenschluss abgesegnet hatte, musste nicht nur die Integration weiter vorangetrieben, wichtige Mitarbeiter an Bord gehalten, Performance- und Wertschöpfungsziele erreicht und die Mitarbeiterzufriedenheit hochgehalten werden, sondern es sollten durch die Fusion auch Chancen zur Innovation und zum Reengineering identifiziert werden.
Gleichzeitig galt es, die Folgen von Corona zu meistern. "Wir hatten eine starke Mission. Unser Credo war: Wir halten das Geschäft in Deutschland am Leben", sagt Irnich, der von Unitymedia kam, wo er ebenfalls schon als CIO tätig war. "Das hat uns allen auch beim Zusammenwachsen einen zusätzlichen Schub gegeben."
Kultur-Check identifiziert Gemeinsamkeiten und Differenzen
Direkt nach der Übernahme von Unitymedia machte sich Vodafone daran, sowohl die eigene Kultur als auch die von Unitymedia zu analysieren, um Gemeinsamkeiten zu identifizieren, die bei der Integration helfen könnten und um Differenzen aufzuspüren, die zu Hindernissen werden könnten. Bettina Karsch, Vodafones Geschäftsführerin Personal: "Von Anfang an war dabei das Ziel: Two become one – Wir schweißen aus zwei Kulturen eine neue Unternehmenskultur zusammen."
Um das Thema für die Praxis greifbar zu machen, wandte sich Vodafone an Spencer Stuart. Mit den Analyse-Tools der internationalen Beratung konnten binnen kürzester Zeit die individuellen Eigenschaften und Werte-Erwartungen von 1.375 Vodafone- und 400 Unitymedia-Mitarbeitern ausgewertet werden.
Vodafone-Kultur: Innovation, Agilität, Flexibilität
Die Ergebnisse bei Vodafone zeigten große Prioritäten bei Themen wie Innovation, Agilität und Flexibilität – für die Telekom- und Medien-Branche und die Unternehmensgröße nicht untypisch. Gleichzeitig ist ein Betrieb dieser Größe natürlich kein Startup: Es gibt Strukturen und Routinen. Sie machen Konzerne oft erst erfolgreich, können sie aber auch stellenweise bremsen. So kann es mitunter zu einer "Diskrepanz zwischen der Darstellung als schnelles, flexibles und agiles Unternehmen und der Realität als konkurrenzgetriebenes, von definierten Rollen und starren Prozessen geprägtes Unternehmen" kommen, wie es eine befragte Führungskraft in der Auswertung formulierte. Generell aber zeigte sich, dass Vodafone durch seine Werteorientierung schnell in der Umsetzung ist und über eine hohe Stabilität verfügt. Und: Vodafone möchte eine "learning culture" etablieren, das übergeordnete Ziel ist jedoch eine starke, ergebnisorientierte Performance-Kultur.
Unitymedia-Kultur: Sinnorientierung, Spaß und Vertrauen
Die Ergebnisse für Unitymedia: Das Unternehmen war deutlich kleiner und daher agiler als Vodafone, informeller und stärker geprägt von individuellen Beiträgen als von konzernartigen Strukturen. Sinnorientierung und Spaß waren wichtig, Loyalität und Vertrauen Schlüsselelemente der Unitymedia-Kultur. Was den Befragten an ihrem Arbeitgeber am besten gefiel, zeigen die folgenden Zitate, die für Entschlossenheit und Optimismus stehen: "Der kontinuierliche Erfolg des Unternehmens auf einem hart umkämpften Markt." Und: "Die Unternehmenskultur, der lockere Umgang und die Offenheit. Jeder Mitarbeiter kann er selbst sein."
Starker Fokus auf Performance
Insgesamt zeigte die Analyse der Umfrage: Beide Unternehmen haben einen starken Fokus auf Performance und sind eher beziehungsorientiert. Spürbare Unterschiede offenbarten sich jedoch in der Art und Weise des Arbeitens sowie im Einsatz von Prozessen: Vodafone legt deutlich mehr Wert auf Ordnung, während Unitymedia den Fokus vergleichsweise eher auf Lernen und Individualität setzt. Vodafones Unternehmenskultur basiert auf etablierten Wegen der Zusammenarbeit, Strukturen und klaren Regeln, die auf Wachstum ausgerichtet sind. Unitymedias Kultur ist informeller mit einem starken Fokus auf kollektive Leistung im Team.
Eine Gebrauchsanweisung fürs Management
Was ließ sich nun aus Sicht von Vodafone mit diesen Erkenntnissen anfangen? Wie konnten sie die Übernahme von Unitymedia erleichtern? Der erste Schritt war, die eigene Kultur zu verstehen und zu akzeptieren. Wichtig war daher eine offene und tabu-freie Diskussion der jeweils eigenen Kultur, um Stärken zu betonen und zu erkennen, was Mitarbeiter möglicherweise behindert und ausbremst. Vodafone und Unitymedia haben sich darauf eingelassen – und es nicht bereut.
Die Kulturdiagnose von Spencer Stuart erwies sich im Verlauf der Fusion als wirksames Werkzeug, "das Einfluss genommen hat auf viele unserer Pläne und Entscheidungen", erinnert sich Bettina Karsch. "Dass wir von Anfang an die Kulturunterschiede verstanden haben und so die gemeinsamen Stärken, aber auch die Differenzen ansprechen konnten, hat uns in der Kommunikation der neuen gemeinsamen Ziele enorm geholfen."
"Wir haben uns von Anfang an um ein konsistentes Narrativ bemüht und klare Botschaften vermittelt, auch wenn die manchmal hart waren." @bettina_karsch, CHRO Vodafone @vodafone_de
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Erfolgsentscheidend sei gewesen, "die Integration nicht nur als Problem von Skalen und Synergiezielen zu sehen, sondern sie auch aus der Perspektive der Menschen wahrzunehmen", sagt Personalchefin Karsch. Denn besonders für die Unitymedia-Kollegen war die Integration nicht leicht: In der kleineren Organisation kannte jeder jeden und viele fürchteten, die eigene Kultur würde nun völlig von der größeren Organisation Vodafone geschluckt werden. "Wir haben uns von Anfang an um ein konsistentes Narrativ bemüht und klare Botschaften vermittelt, auch wenn die manchmal hart waren. Transparenz war wichtig – und hat sich ausgezahlt, auch in Konfliktsituationen hat sich keiner hinters Licht geführt gefühlt." Im Rückblick ist das Zusammenwachsen gut gelaufen, findet Karsch, doch wenn sie den Integrationsprozess noch einmal vor sich hätte, würde sie ihn eher noch schneller durchziehen: "Ein kurzer Prozess spart Nerven und Ressourcen."
Kommunikation zahlt sich aus – gerade in der Krise
Die dann ja auch prompt in der Coronakrise auf eine harte Probe gestellt wurden. "Das Thema Kultur hat uns einen Schub gegeben, der auch in der Viruskrise enorm hilfreich ist. 'Bindet Eure Mitarbeiter ein' war sowieso schon das Motto in der Zeit nach der Fusion. Die Not der Krise hat dann erst recht dafür gesorgt, alle ins Boot zu holen und ein Mannschaftsgefühl zu entwickeln. Dieser Spirit der Zusammenarbeit und die Notwendigkeit, mehr und besser zu kommunizieren, haben das Unternehmen richtig aufgerüttelt", so Karsch.
So wurden wichtige Kommunikations-Initiativen ergriffen – etwa ein personalisiertes Welcome-Video des CEOs beim Onboarding mit Key-Messages zur Vodafone-Vision und die über Erwartung kommerziell erfolgreiche "Gigabit"-Marketingkampagne beider Unternehmen, die ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen ließ. Aus einer Gruppe von Mitarbeitern verschiedenster Funktionen und Bereiche, die allesamt als "Challenger" eingestuft wurden, wurde ein Art Ambassador-Programm ins Leben gerufen: Dort liefen Erkenntnisse aus der Kulturanalyse, die Identifikation "wunder Punkte" und die Verbindung zum Integrationsbüro zusammen, von dort wurden Trainings organisiert und Mitarbeiter aus den Business-Funktionen in Richtung neue Kultur mitgenommen. Über allen Initiativen standen drei Begriffe: Miteinander, Geschwindigkeit, Transparenz. Diese Prinzipien halfen dabei, die gemeinsame Vision zu artikulieren und den Fortschritt immer wieder daran zu messen.
Neues Wir-Gefühl
Das neue Wir-Gefühl fand sich auch in den Mitarbeiterumfragen wieder, die Vodafone regelmäßig durchführte, um den Mitarbeitern den Puls zu fühlen. "Schon im Mai 2020 zeigte sich, dass die neuen, von Unitymedia kommenden Mitarbeiter deutlich an Zufriedenheit zugelegt hatten, nicht nur im Hinblick auf ihre persönliche Arbeit, sondern auch bei der Identifikation mit Vodafone", sagt Karsch. "So wird ein Unternehmen krisenresistent."
"Die Unternehmenskultur soll bei uns auch weiterhin behandelt werden wie eine Kennzahl, die regelmäßig gemessen wird." @bettina_karsch, CHRO Vodafone @vodafone_de
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Gerade der Kontext einer Übernahme wie bei Vodafone und Unitymedia lässt sich dazu nutzen, um ehrgeizige Ziele für eine künftige Unternehmenskultur zu setzen. In diesem Prozess hilft es, klar zu definieren, welche Teile der alten Kulturen wertgeschätzt und daher beibehalten werden sollten – und welche neuen Elemente es von der jeweils anderen Kultur zu lernen gibt. Im konkreten Fall galt es, vor allem die Bereiche Lernen und Sinnorientierung zu betonen und die Komponenten Sicherheit und Ordnung etwas zurücktreten zu lassen.
Im letzten Schritt gilt es, die neue Ziel-Kultur auch langfristig im Unternehmen aktiv zu verankern. Die Werte lauten: Innovation, Kollaboration und Inspiration. "Dafür brauchst du den ganzen Menschen", sagt Bettina Karsch. "Und eine Unternehmenskultur, die das ernst nimmt."
"Die Unternehmenskultur soll bei uns auch weiterhin behandelt werden wie ein Kennzahl, die regelmäßig gemessen wird." @bettina_karsch, CHRO Vodafone @vodafone_de
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Es geht immer weiter
Der neue Chairman des Unternehmens, Jean-Francois Van Boxmeer, hatte Vodafone Deutschland gleich nach der Übernahme seines Amts besucht und dabei viel über Unternehmenskultur gesprochen, berichtet Bettina Karsch. Er habe auch betont, dass rund 90 Prozent aller Integrationen keinen Erfolg haben, weil das Thema Kultur nicht ernst genug genommen wird. "Wir wollten das anders machen – was uns gut gelungen ist. Für viele Unternehmen unserer Größe gelten wir damit als Vorreiter. Und die Unternehmenskultur soll bei uns auch weiterhin behandelt werden wie ein Kennzahl, die regelmäßig gemessen wird." Denn klar ist: Ausruhen ist kein Thema und fertig ist man nie. Die Kultur kann immer wieder angepasst und verbessert werden – mit den richtigen Mitteln. Bettina Karsch: "So konnten wir unsere Performance-Kultur, die sich ja auch in den Unternehmens-Ergebnissen der vergangenen Jahren spiegelt, anreichern und etwa durch stärkere Lern-Orientierung für die Zukunft aufstellen."
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Mehr zum Thema "Unternehmenskultur managen" lesen Sie im Schwerpunkt des Personalmagazin Ausgabe 2/2021 und auf unserer Themenseite "Unternehmenskultur".
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