Konflikte lösen zu wollen, ist naiv

Dass Konflikte, die allen nur schaden, be­ruhigt werden sollten, leuchtet schnell ein. Aber es gibt auch Konflikte, die man schüren muss, weil nur so Neues in die Welt kommt. Wann was sinnvoll ist, zeigt das neue "Konfliktcockpit" von Klaus Eidenschink. Warum es so umfangreich ist und wie man den Umgang mit ihm lernt, verrät der Konfliktprofi im Interview mit "Personalmagazin neues lernen".

Personalmagazin neues lernen: Herr Eidenschink, Sie fordern von Konfliktbeteiligten, sie sollten in den jeweils passenden Momenten Konflikte sowohl beruhigen als auch anheizen können. Warum gibt es in Ihrem Buch keine Checklisten, die einem das eine wie das andere erleichtert?

Klaus Eidenschink: Konflikte sind viel zu komplex, als dass man ihnen mit Checklisten beikommen könnte. Mein Buch, das dieses Jahr im Carl-Auer-Verlag erschienen ist, heißt "Die Kunst des Konflikts", weil "Kunst" für mich das genaue Gegenteil davon ist, etwas mit Checklisten oder Rezepten zu bearbeiten. Es ist leider ein weitverbreiteter Irrglaube, dass man das, was man braucht, um im Leben gut zurechtzukommen, mit Hilfe von Checklisten erreichen kann.

Das Wesen eines Konflikts erkennen

neues lernen: Immerhin helfen Sie den Streitparteien mit neun "Leitunterscheidungen" …

Eidenschink: Die wesentliche Orientierung darüber, wie man einen Konflikt führen sollte, bekommt man, wenn man auf seine ureigene Wahrnehmung achtet. Dabei können die von mir definierten neun Leitunterscheidungen helfen. Jeder Beteiligte und jeder Konfliktmoderator sollte in der Lage sein, einen Konflikt in all seinen Aspekten wertfrei zu beschreiben und zu analysieren. Es handelt sich bei den Leitunterscheidungen um eine Heuristik, also ein Schema, das hilft, das Wesen eines konkreten Konflikts zu erkennen. Der schwerwiegendste Fehler vieler Konfliktparteien besteht doch darin, dass sie die Selbstbeobachtung und die Beobachtung des Gegners einstellen und einfach nur draufloskämpfen.

neues lernen: Warum gerade neun "Leitunterscheidungen"? Hätten es nicht auch fünf getan?

Eidenschink: Die neun Leitunterscheidungen ergeben sich aus der Auswertung der bestehenden Konfliktforschung und aus meinen jahrelangen Erfahrungen bei der Bearbeitung von Konflikten im privaten wie im beruflichen Kontext. Die Auswahl der Leitunterscheidungen war kein Wunschkonzert. Ich hatte den Anspruch, ein umfassendes und differenziertes Wahrnehmen von sozialen Konflikten zu ermöglichen. Alle neun Leitunterscheidungen sind übrigens gleich wichtig. Es gibt keine Hierarchie unter ihnen. Aber natürlich müssen nicht alle neun Leitunterscheidungen gleichzeitig in jedem Konflikt eine Rolle spielen. Was in einem speziellen Fall besonders relevant ist, das zeigt sich aber erst nach einer gründlichen Analyse.

Konfliktbearbeitung muss erlernt und geübt werden

neues lernen: Ich stelle es mir schwer vor, als Konfliktmoderator oder gar als Betroffener während eines Konfliktgesprächs nicht nur auf den Inhalt des Gesprächs, sondern auch gleichzeitig noch auf alle neun Leitunterscheidungen zu achten... 

Eidenschink: Niemand kann beispielsweise ohne Übung Autorennen fahren. Konfliktbearbeitung ist mindestens so schwierig, wie ein Rennauto zu steuern. Man sollte während eines Konfliktgesprächs bestimmte Kriterien beobachten können. Das muss man in der Tat in Workshops üben, bevor man in der Realität neben dem Gesprächsinhalt auch noch auf die Art und Weise der Kommunikation achten kann.

neues lernen: Wie könnten solche Schulungen aussehen?

Eidenschink: Es ist in diesem Fall nicht sinnvoll, dass ein Seminarleiter oder eine Seminarleiterin Wissen präsentiert, das geschluckt werden muss. Es braucht Workshops, die eine Selbsterfahrung ermöglichen und die allen Teilnehmenden helfen, das herauszufinden, was er oder sie im Umgang mit Konflikten zu lernen hat. Jeder und jede, der oder die über sich selbst immer nur allein nachdenkt, hat ein Problem mit dem berühmten blinden Fleck: Man will sich etwas nicht eingestehen, findet sich an manchen Punkten besser als man ist, hat Angst vor etwas, sodass man sich überhaupt nicht mit dieser Angst beschäftigen will. Darum brauchen alle, die Konflikte bearbeiten wollen, ein Training, in dem sie zu Übungszwecken konkrete Konflikte mit zum Beispiel den anderen Teilnehmenden erleben und bearbeiten kann. Man trifft in solchen Workshops auf Menschen, die einem helfen, sich mit den eigenen Ängsten auseinanderzusetzen. Es handelt sich um spezielle Lernräume, die einen sicheren Ort bieten, um sich auf unangenehme Gefühle wie Angst, Ohnmacht, Wut oder Zorn einzulassen. Schließlich ist einer der wesentlichen Aspekte von Konfliktregulationskompetenz, unangenehme Gefühle gut managen zu können. 

"Einer der wesent­lichen Aspekte von Konflikt­regulations­kompetenz ist, unan­genehme Gefühle gut managen zu können." - Klaus Eidenschink


neues lernen: Gibt es diese Ausbildung zum Konfliktprofi auch online?

Eidenschink: Nein. Man kann online auch keine Kinder zeugen. Ich bin der Überzeugung, dass man online nicht konfliktfähig werden kann. Was nicht bedeutet, dass ich generell gegen Online-Coaching wäre. Es gibt auch Formen von Einzelberatungen, die man via Internet gut durchführen kann. 

neues lernen: Wäre eine Mediationsausbildung eine Alternative? 

Eidenschink: Mediation ist ein etabliertes, sinnvolles und ausgereiftes Konzept. Mediatoren und Mediatorinnen werden um Hilfe gebeten, wenn ein Konflikt eskaliert ist und die Streitparteien in diesem heißen Konflikt hängen bleiben. Dann entwickeln Mediatoren Strategien, wie man aus solch einer Eskalation wieder rauskommt und eine Deeskalation erreicht. Meine Konflikttheorie ist viel umfassender, weil es um eine grundsätzliche Steuerung von Konflikten geht – und zwar sowohl in die Richtung des Anheizens als auch in die Gegenrichtung des Beschwichtigens. 

Konflikte erfüllen eine wesentliche Funktion

neues lernen: Was heißt eigentlich "Konflikte anfachen"?

Eidenschink: Wenn man mit Teamentwicklern oder -entwicklerinnen spricht, dann erzählen die oft von sogenannten "kalten Konflikten". Es gibt einen vordergründigen Konsens, weil alle Beteiligten glauben, sie kämen um eine Auseinandersetzung mit unangenehmen Fragen herum. Da muss man dann den Konflikt erst heiß werden lassen, damit er überhaupt bearbeitbar wird. Tut man das nicht, dann fliegt der Konflikt dem Team nach einiger Zeit sehr brutal um die Ohren, und alle wundern sich über die Aggression der bislang ach so netten Kollegen und Kolleginnen. Es ist genauso wichtig, Konflikte zu beruhigen. Wenn der Konflikt dazu da ist, eine neue Ordnung zu schaffen, dann sollte daraus kein Dauer­konflikt werden, der viele Ressourcen verschlingt, die man anderswo dringender brauchen könnte. 

"Die Menschheit sollte sich radikal von der Idee verabschieden, dass man Konflikte lösen kann. Die Meinung, dass Konflikte gelöst werden sollten und am besten immer in Win-win-Situationen einzumünden hätten, ist naiv." - Klaus Eidenschink


neues lernen: Das Lösen von Konflikten kommt bei Ihnen nicht vor?

Eidenschink: Die Menschheit sollte sich radikal von der Idee verabschieden, dass man Konflikte lösen kann. Die Meinung, dass Konflikte gelöst werden sollten und am besten immer in Win-win-Situationen einzumünden hätten, ist naiv. Eine konfliktfreie Welt wird doch seit Jahrhunderten angestrebt, und man muss feststellen, dass alle Bemühungen umsonst waren. Es ist besser, sich mit der Erkenntnis anzufreunden, dass Konflikte deshalb so unauslöschlich sind, weil sie in sozialen Systemen eine wesentliche Funktion erfüllen. Solange man diese Funktion nicht versteht, wird man Konflikte noch nicht einmal regulieren können.


Dieses Interview ist erschienen in Personalmagazin neues lernen, Ausgabe 6/2023, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der App personalmagazin - neues lernen.


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