Rz. 80
Die Abgrenzung dieser beiden Institute ist umstritten.
Die Bedeutung dieser Streitfrage soll folgender Fall verdeutlichen: Ein Rechtsanwalt versäumt schuldhaft seine Vertragspflicht, einen Erbvertrag, den der Auftraggeber vor seiner Eheschließung und der Geburt seiner Kinder zugunsten seiner Schwester geschlossen hat, anzufechten (§§ 2079, 2281 ff. BGB). Ehefrau und Kinder lassen ihre Schadensersatzansprüche gegen den Rechtsanwalt aus dem Anwaltsvertrag mit Schutzwirkung zu ihren Gunsten verjähren. Der Auftraggeber, der die Verjährung eines eigenen Schadensersatzanspruchs rechtzeitig verhindert hat, klagt – mit Zustimmung seiner Ehefrau und Kinder – gegen den Rechtsanwalt auf Feststellung, dass dieser verpflichtet ist, den infolge seiner Pflichtverletzung entstandenen Schaden der Ehefrau und Kinder des Auftraggebers zu ersetzen. Kann der Mandant (Vertragsgläubiger) aufgrund seines Vertrages mit dem Rechtsanwalt (Vertragsschuldner) einen Schaden der geschützten Dritten nach den Regeln der Drittschadensliquidation oder in entsprechender Anwendung des § 335 BGB geltend machen, obwohl eigene Ansprüche der Dritten gegen den Rechtsanwalt aus diesem Vertrag mit Schutzwirkung zu ihren Gunsten, diesen Schaden zu ersetzen, verjährt sind?
I. Meinungsstreit
Rz. 81
Zum Verhältnis des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter und der Drittschadensliquidation werden folgende Ansichten vertreten:
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Beide Institute können nebeneinander angewendet werden. Dann könnte der Vertragsgläubiger im Ausgangsfall den Schaden der vertraglich geschützten Dritten gegen den Vertragsschuldner geltend machen. |
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Die Drittschadensliquidation hat Vorrang vor den Regeln des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Dann könnte der Vertragsgläubiger im Ausgangsfall den Schaden der vertraglich geschützten Dritten gegen den Vertragsschuldner einklagen, wenn die Voraussetzungen einer Drittschadensliquidation vorliegen. |
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Ein Anspruch aus Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter schließt eine Liquidation des Drittschadens durch den Vertragsgläubiger aus. Dann wäre die Klage im Ausgangsfall unbegründet. |
II. Drittschadensliquidation
Rz. 82
Grds. kann nur derjenige aus einem Vertrag Schadensersatz beanspruchen, der selbst einen Schaden erlitten hat; tritt bei der Vertragsabwicklung ein Schaden eines Dritten ein, haftet der Schädiger ihm i.d.R. nur nach Deliktsrecht. Ausnahmsweise kann einer Vertragspartei das Recht zustehen, den Schaden eines Dritten geltend zu machen, falls die Interessen der Personen so eng verknüpft sind, dass der Vertragsgläubiger die Drittinteressen wahrzunehmen hat und der Vertragsschuldner nach den gegebenen Umständen damit rechnen muss.
Anerkannte Fälle einer solchen "Interessen-/Schadensverlagerung" sind der Vertragsschluss in mittelbarer Stellvertretung für Rechnung eines Dritten, die sog. Gefahrentlastung (vgl. u.a. §§ 447, 644 Abs. 2 BGB), die Obhutspflicht für eine fremde Sache und treuhänderische Sicherungsgeschäfte. In diesen Fällen darf der Schädiger aus der Verschiedenheit von Gläubiger und Geschädigtem keinen Vorteil ziehen.
Liegen die Voraussetzungen einer Drittschadensliquidation vor, kann der Vertragsgläubiger die Ersatzleistung an sich oder an den Dritten verlangen. Der geschädigte Dritte hat keinen eigenen vertraglichen Schadensersatzanspruch, kann jedoch i.d.R. aus vertraglicher Nebenpflicht oder entsprechend § 281 BGB a.F./§ 285 BGB n.F. Abtretung des vertraglichen Schadensersatzanspruchs von dem – nicht geschädigten – Vertragspartner verlangen. Gegen den Willen des Dritten ist die Liquidation seines Schadens unzulässig; im Streitfall hat der Schädiger den entsprechenden Nachweis zu führen.
Der Ausgangsfall lässt sich nicht unter die anerkannten Fälle einer Drittschadensliquidation einordnen.