Rz. 55
Die Testierfähigkeit kann nur dann Gegenstand der Ermittlungen des Nachlassgerichts sein, wenn sich gewisse Auffälligkeiten ergeben, die Zweifel an der Testierfähigkeit erkennen lassen. Zweifel an der Testierfähigkeit des Erblassers zum Zeitpunkt der Errichtung seiner letztwilligen Verfügung können Anlass zur Einholung des Gutachtens eines psychiatrischen oder nervenfachärztlichen Sachverständigen nur dann geben, wenn sie aus objektivierbaren Tatsachen oder Hilfstatsachen (nicht: Vermutungen und Wahrscheinlichkeitsurteilen für mögliche Krankheitsbilder ohne Anknüpfung an auffälliges symptomatisches Verhalten des Erblassers im zeitlichen Zusammenhang mit der Testamentserrichtung) herzuleiten sind. Zweifel können sich aus der Urkunde selbst ergeben, sowohl aus dem Inhalt als auch aus der Abfassung der Urkunde selbst. Daneben ist die Testierfähigkeit zu ermitteln, sofern Zweifel daran von dem Antragsteller oder Zeugen vorgetragen werden. Insbesondere gilt dies in Fällen des sog. luziden Intervalls, also des medizinischen Phänomens, dass ein Erblasser sich phasenweise in einem klaren geschäftsfähigen Zustand befindet und im darauffolgenden Moment bereits den völligen Verlust der Geschäftsfähigkeit erleidet. Zur Bejahung der Testierfähigkeit genügt es nicht, dass der Erblasser eine allgemeine Vorstellung von der Tatsache der Errichtung eines Testaments und von dem Inhalt seiner letztwilligen Anordnung hatte; er muss vielmehr auch in der Lage sein, sich über die Tragweite dieser Anordnungen und ihre Auswirkungen auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen sowie über die Gründe, die für und gegen ihre sittliche Berechtigung sprechen, ein klares Urteil zu bilden und nach diesem Urteil frei von Einflüssen etwaiger interessierter Dritter zu handeln.
Rz. 56
Das Nachlassgericht hat nach § 26 FamFG den Sachverhalt ausreichend zu erforschen und eine entsprechende Beweiswürdigung vorzunehmen. Dabei kommt insbesondere eine Ermittlung der Vorgeschichte, also der Krankengeschichte des Erblassers, in Betracht. Dies führt meist dazu, dass die behandelnden Ärzte oder Betreuer für den Fall, dass der Erblasser unter amtlicher Betreuung i.S.v. § 1814 BGB stand und auch die Personen, die an der Abfassung der letztwilligen Verfügung mitgewirkt haben, z.B. ein Rechtsanwalt, Steuerberater oder Notar, zur Sache anzuhören sind. Die Schweigepflicht dieser Personen entfällt dabei nicht mit dem Tod des Erblassers. Vielmehr kann diese im Einzelfall aber gerade nicht mehr bestehen, da es wohl in aller Regel dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entspräche, wenn diese Personen bzgl. der Testierfähigkeit eine Aussage tätigen. Darüber hinaus wird das Nachlassgericht notwendigerweise meist ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einholen müssen, um sich letztlich Sicherheit über die Testierfähigkeit verschaffen zu können. Da es im Gegensatz zur partiellen Geschäftsunfähigkeit keine partielle Testierfähigkeit gibt, muss das Gericht in seiner Feststellung entweder zu einer Testierfähigkeit oder Testierunfähigkeit gelangen.
Rz. 57
Praxishinweis
Es ist davor zu warnen, vorschnell darauf abzuzielen, dass der Erblasser testierunfähig gewesen ist. Viele Krankheitsbilder lassen selbst bei langanhaltender Dauer die Testierfähigkeit uneingeschränkt. So muss eine langjährige Alkoholabhängigkeit nicht zwangsweise zu einer Testierunfähigkeit führen. Auch der Testierwille des Erblassers ist vom Nachlassgericht zu ermitteln.