Rz. 309

Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind neue Tatsachen, neue Beweismittel und neue Einreden und auch ein Bestreiten in der Berufungsinstanz, nachdem erstinstanzlich Vortrag des Gegners "für diese Instanz" unstreitig gestellt wurde.[468] Dieses Vorbringen muss zunächst "neu" sein, also nach Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz bzw. nach Ablauf einer gewährten Schriftsatzfrist erstmals vorgetragen worden sein. Hier ist zu prüfen, ob das Vorbringen bereits – ggf. mit abweichender Formulierung – in erster Instanz gehalten wurde.[469]

 

Rz. 310

 

Beispiel

Bei der Prüfung einer Eigenbedarfskündigung ist zweitinstanzliches Vorbringen, das lediglich die bereits erstinstanzlich angeführte Eigenbedarfssituation, ergänzt, nicht als neu anzusehen.[470] Hingegen bildet ein erstmals im zweitinstanzlichen Verfahren angetretener Zeugenbeweis für einen schon in erster Instanz gehaltenen Vortrag stets ein neues Angriffs- oder Verteidigungsmittel, und zwar unabhängig davon, ob in erster Instanz schon ein Zeuge mit "NN" bezeichnet oder noch gar kein Beweisantritt erfolgt ist. Die für die Konkretisierung eines bereits erbrachten Vortrags geltenden Grundsätze finden hier keine Anwendung, weil der Zeugenbeweis gem. § 373 ZPO erst dann angetreten ist, wenn ein Zeuge benannt ist.[471]

 

Rz. 311

 

Hinweis

Nicht neu ist Vorbringen, das durch ein Schriftsatzrecht gedeckt und damit zu dem nach § 296a S. 2 ZPO zu beachtenden erstinstanzlichen Prozessstoff gehört, vom erstinstanzlichen Gericht jedoch fälschlich nicht berücksichtigt wurde. Von einem nach § 283 S. 1 ZPO gewährten Schriftsatzrecht ist nur solches Vorbringen gedeckt, das sich als Erwiderung auf den verspäteten Vortrag des Gegners darstellt. Dazu zählen auch neue tatsächliche Behauptungen, soweit sie als Reaktion auf das der Partei nicht rechtzeitig mitgeteilte gegnerische Vorbringen erfolgen.[472]

 

Rz. 312

Vorbringen einer Partei ist nicht neu im Sinne von § 531 Abs. 2 ZPO, wenn ein bereits schlüssiges Vorbringen aus der ersten Instanz durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert wird.[473] So liegt kein neues Angriffsmittel vor, wenn sich die Grundlage für einen bislang nicht geprüften Anspruch bereits aus dem erstinstanzlichen Vortrag ergibt und das Vorbringen in der Berufungsinstanz diesen Umstand nur verdeutlicht oder erläutert.[474] Beruft sich die Berufung erstmals ausdrücklich auf einen Gesichtspunkt, den der gerichtliche Sachverständige in seinem erstinstanzlichen schriftlichen Gutachten in das Verfahren eingeführt hatte, kann dieser Vortrag nicht als neu im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen werden, wenn er dem Berufungsführer günstig ist und er ihn sich deshalb (konkludent) zumindest hilfsweise zu eigen gemacht hatte.[475]

 

Rz. 313

 

Hinweis

Bei einer zulässigen Berufung ist zu beachten, dass neuer unstreitiger Tatsachenvortrag in der Berufungsinstanz selbst dann zu berücksichtigen ist, wenn dadurch eine Beweisaufnahme erforderlich wird;[476] § 531 Abs. 2 ZPO gilt dann nicht. Dies gilt auch für unstreitige Einreden.[477] Die erstmals im Berufungsrechtszug erhobene Verjährungseinrede ist unabhängig von den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen, wenn die Erhebung der Verjährungseinrede und die den Verjährungseintritt begründenden tatsächlichen Umstände zwischen den Prozessparteien unstreitig sind.[478] Im einstweiligen Verfügungsverfahren findet § 531 Abs. 2 ZPO nach richtiger Ansicht keine Anwendung.[479]

 

Rz. 314

In der Berufungsinstanz neu sind auch Angriffs- und Verteidigungsmittel, die zunächst vorgebracht, dann aber fallen gelassen worden sind (vgl. § 399 ZPO). Die bloße Nichtzahlung eines geforderten Vorschusses soll nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich nicht als Verzicht auf das Beweismittel angesehen werden können.[480]

[469] Vgl. etwa BGH GesR 2014, 658.
[470] BGH NJW-RR 2017, 72, 74; zu Indizien gegen eine Eigenbedarfssituation BGH NJW-RR 2016, 982, 984.
[471] BGH NJW-RR 2017, 72, 74.
[472] BGH BeckRS 2018, 3685.
[473] Vgl. etwa BGH, NJW-RR 2017, 72, 74; BGH NJW-RR 2009, 1236.
[475] BGH BeckRS 2015, 12554.
[476] BGH BeckRS 2016, 04977; BGH NJW 2005, 291.
[477] BGH BeckRS 2016, 04977.
[479] MüKo-ZPO/Rimmelspacher, § 531 ZPO Rn 3.

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