Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 31
Die Entstehung von Tarifbindung hängt neben der Mitgliedschaft der Arbeitsvertragsparteien in den jeweiligen Tarifvertragsparteien ferner davon ab, dass der Beschäftigungsbetrieb in den geografischen und fachlichen Geltungsbereich des betreffenden Tarifvertrags fällt. Ersteres erweist sich i.d.R. als unproblematisch. Die Tarifvertragsparteien können selbst den räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages festlegen und somit ergibt sich dieser in erster Linie aus der Auslegung des Tarifvertrags. Geografisch beziehen sich Tarifverträge i.d.R. auf das gesamte Bundesgebiet oder auf bestimmte Regionen. Im Zweifel werden die Tarifvertragsparteien den Geltungsbereich eines Tarifvertrags so weit erstrecken, wie es ihnen möglich ist.
Rz. 32
Die Bestimmung des fachlichen Geltungsbereiches eines Tarifvertrags kann dagegen erhebliche Probleme bereiten. Diese beruhen teilweise auf der Schwierigkeit, die charakteristischen Merkmale und Grenzen einer gewerblichen Branche exakt zu bestimmen und die zu beurteilende betriebliche Tätigkeit ihr zuzuordnen, auch wenn diese Tätigkeit selbst eine einheitliche ist.
Rz. 33
Beispiel
Das Verkleiden von Decken und Wänden mit von Drittunternehmen vorgefertigten Platten unterfällt dem Trocken- und Montagebau und nicht dem Schreinerhandwerk (BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 302/06).
Rz. 34
Ein Betrieb, der hauptsächlich Catering betreibt, also verzehrfertiges Essen ausliefert, unterfällt nicht dem Tarifvertrag des Hotel- und Gaststättengewerbes (BAG v. 9.4.2008 – 4 AZR 164/07), sondern fällt nach seinem fachlichen Geltungsbereich unter den Manteltarifvertrag für Systemgastronomie (abgeschlossen durch die DEHOGA mit der NGG) bzw. unter den Manteltarifvertrag für Beschäftigte von Betriebsküchen, Kasinos, Kantinen und sonstigen Verpflegungseinrichtungen (abgeschlossen durch die BVBG mit der NGG).
Rz. 35
Ein Unternehmen, das mit anderen Unternehmen Kommissionsverträge abschließt, ist dem Bereich des Großhandels auch dann zuzuordnen, wenn das Eigentum direkt vom Kommittenten an den Käufer übergeht (BAG v. 25.1.2006 – 4 AZR 622/04 Tarifverträge: Großhandel).
Rz. 36
Werden von einem Garten-Center gartenbauliche Erzeugnisse (z.B. Zier- und Grünpflanzen) angekauft und erst mehrere Monate später wieder verkauft, ist dies kein Einzelhandel, vielmehr unterfällt das Arbeitsverhältnis dem Rahmentarifvertrag für Angestellte im Erwerbsgartenbau und in den Friedhofsgärtnereien (BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 663/00 Tarifverträge: Einzelhandel).
Rz. 37
Die Probleme beruhen z.T. auf der – zusätzlichen – Schwierigkeit, bei einem Betrieb, der mehrere Tätigkeitsfelder besitzt, den ihn prägenden Schwerpunkt festzustellen.
Rz. 38
Beispiel
Was gibt einer sog. "Trinkhalle" ihr Gepräge? Unterfällt sie der Branche Einzelhandel oder dem Gaststättengewerbe? Vgl. dazu LAG Hamm v. 15.3.1995 – 145 Sa 932/94, n.v.
Rz. 39
Den betrieblichen Schwerpunkt bestimmt das BAG nach der Anzahl der in den Betriebsteilen/Abteilungen jeweils geleisteten Arbeitsstunden (BAG v. 20.6.2007 – 15 Sa 630/07). Nicht die Kopfzahl der in dem jeweiligen Teil/der Abteilung beschäftigten Mitarbeiter, sondern das dort von ihnen geleistete Arbeitszeitvolumen ist nach Auffassung des BAG das maßgebliche Kriterium, welches einem Mischbetrieb sein Gepräge gibt (BAG v. 25.11.1987 – 4 AZR 361/87; BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06; näher dazu Boemke/Sachadae, BB 2011, 1973).
Rz. 40
Inwieweit Nebenbetriebe, d.h. eigenständige Betriebe, die mit ihrem arbeitstechnischen Zweck die Aufgabe verfolgen, den arbeitstechnischen Zweck des Hauptbetriebes desselben Unternehmens zu unterstützen (BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86), von den für den Hauptbetrieb geltenden Tarifverträgen erfasst werden, wenn im Nebenbetrieb branchenfremde Unterstützungsarbeiten wahrgenommen werden, ist zuvörderst eine Frage der Auslegung der einschlägigen Tarifverträge. Im Zweifel werden Nebenbetriebe trotz formaler Selbstständigkeit von den für den Hauptbetrieb einschlägigen Tarifverträgen erfasst, da sie diesem "zuzurechnen" sind (BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86; ErfK/Franzen, TVG, § 4 Rn 13 ff.; v. Hoyningen-Huene, NZA 1996, 617, 619).