Rz. 26
Für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels reicht es allerdings nicht aus, dass die angefochtene Entscheidung eine Beschwer des Rechtsmittelführers enthält. Erforderlich ist vielmehr zusätzlich, dass mit dem Rechtsmittel die Beseitigung dieser Beschwer erstrebt wird.
Rz. 27
Ein Rechtsmittel, mit dem der in erster Instanz erhobene Klageanspruch nicht wenigstens teilweise weiterverfolgt wird, das also die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung gar nicht infrage stellt, sondern lediglich – insbesondere im Wege der Klageänderung – einen neuen, bislang nicht geltend gemachten Anspruch zur Entscheidung stellt, ist daher nicht zulässig. Eine abweichende materiell-rechtliche Einordnung des aufgrund desselben Lebenssachverhalts weiterverfolgten prozessualen Anspruchs (Streitgegenstand, siehe dazu § 25 Rdn 133 ff.) steht der Zulässigkeit aber nicht entgegen.
Rz. 28
Die Erweiterung oder Änderung der Klage in zweiter Instanz kann folglich nicht alleiniges Ziel des Rechtsmittels sein. Vielmehr setzt ein derartiges Prozessziel eine zulässige Berufung voraus. Soweit eine Partei in erster Instanz keinen Rechtsschutz gefordert hat, ist sie grundsätzlich an diese Disposition gebunden und kann das Versäumte nicht in höherer Instanz nachholen. Dies gilt ebenso für eine vom Beklagten erst in der zweiten Instanz erhobene Widerklage.
Rz. 29
Es reicht daher auch nicht aus, wenn das erstinstanzliche Begehren in zweiter Instanz nur hilfsweise weiterverfolgt und primär ein neuer Anspruch zur Entscheidung gestellt wird, da die Zulässigkeit des (neuen) Hauptantrags nicht allein aus der Zulässigkeit des Hilfsantrags abgeleitet werden kann, der nur für den Fall gestellt wird, dass der Hauptantrag unbegründet ist. Hinsichtlich des ursprünglichen, nunmehr im Rahmen des Hilfsantrags geltend gemachten Begehrens ist die Berufung jedoch zulässig und in der Sache zu entscheiden.
Rz. 30
Hat nach einem Verkehrsunfall der Geschädigte mit einer Direktklage (§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG) einen Kraftfahrtpflichtversicherer aufgrund der Einstandspflicht für einen bestimmten Unfallbeteiligten in Anspruch genommen und stützt er nach Abweisung dieser Klage die gegen den Versicherer geführte Berufung allein auf dessen Einstandspflicht für einen anderen Unfallbeteiligten, so wird damit ebenfalls nicht die aus der angefochtenen Entscheidung herrührende Beschwer geltend gemacht.
Rz. 31
Ebenso ist eine Berufung unzulässig, mit der anstelle des erstinstanzlich geltend gemachten, eigenen nunmehr ein (vormals) fremder Anspruch – sei es aus abgetretenem Recht, sei es im Wege der Prozessstandschaft (siehe oben § 25 Rdn 117 ff.) – verfolgt wird.
Rz. 32
Ein lediglich einen neuen Anspruch einführendes Rechtsmittel wird auch nicht dadurch zulässig, dass der Rechtsmittelführer einen unterbliebenen gerichtlichen Hinweis rügt, der ihn dazu veranlasst hätte, bereits in erster Instanz die Klage zu ändern.
Rz. 33
Zulässig ist es dagegen, aus dem bereits im ersten Rechtszug geltend gemachten Sachverhalt in der Berufung (lediglich) weitergehende oder geringere Rechtsfolgen abzuleiten (§ 264 Nr. 2 ZPO), insbesondere also von einer erstinstanzlichen Feststellungsklage auf eine Leistungsklage in zweiter Instanz überzugehen. Dies gilt auch für den Wechsel von einem Feststellungsbegehren auf eine Stufenklage, da mit deren Zustellung auch der darin enthaltene – noch unbestimmte – Leistungsantrag rechtshängig wird, sie also insgesamt eine Leistungsklage darstellt. Ebenso kann im Falle der Abweisung einer Klage auf wiederkehrende Leistungen als unzulässig (siehe oben § 26 Rdn 287 ff.) in zweiter Instanz auf eine zulässige Abänderungsklage übergegangen werden. Auch für den Übergang von einer Freistellungsklage (siehe oben § 26 Rdn 18 ff.) auf ein Zahlungsbegehren und umgekehrt gilt nichts anderes.
Rz. 34
Neuer Sachvortrag zur haftungsausfüllenden Kausalität ändert den Klagegrund solange nicht, wie er gleiche Schadensarten betrifft, da innerhalb der gleichen Schadensart die verschiedenen Berechnungsgrundlagen lediglich unselbstständige Faktoren eines einheitlichen Schadens und Ersatzanspruchs darstellen, die im Rahmen des verlangten Gesamtbetrags austauschbar sind. Daran ändert es nichts, wenn die sachlichen Voraussetzungen teilweise unterschiedlich sind. Ergänzt eine Partei ihre tatsächlichen Behauptungen in dieser Hinsicht, begründet dies keinen neuen Streitgegenstand und ändert nichts daran, dass die Beseitigung der Beschwer (weiter-)verfolgt wird.