Rz. 146
Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind nur zuzulassen, wenn sie
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einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht erster Instanz erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO), oder |
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infolge eines Verfahrensmangels im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurde (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO) oder |
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dort nicht geltend gemacht wurde, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO). |
Rz. 147
Angriffs- und Verteidigungsmittel ist jedes sachliche oder prozessuale Vorbringen, das zur Durchsetzung/Abwehr des geltend gemachten prozessualen Anspruchs dient, wie Behauptungen und Bestreiten, Einwendungen und Einreden sowie Beweisanträge. Nicht hierunter fallen bloße Rechtsausführungen oder der "Angriff selbst", das heißt Klageänderungen und -erweiterungen, auch nicht eine Widerklage; zur Zulässigkeit dieser "Angriffe" in zweiter Instanz siehe unten Rdn 171 ff.
Rz. 148
Neu sind Angriffs- und Verteidigungsmittel, wenn sie bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz nicht vorgebracht worden sind. Dazu zählt auch Vorbringen in nicht nachgelassenen Schriftsätzen (§ 296a ZPO) oder solches, dass die Grenzen eines eingeräumten Schriftsatznachlasses (§ 283 ZPO) überschreitet; neuer tatsächlicher Vortrag im Rahmen eines Schriftsatznachlasses, der sich als Reaktion auf das verspätete Vorbringen des Gegners darstellt, ist jedoch zu berücksichtigen. Vorbringen, das die Partei im ersten Rechtszug vorgetragen, dort später jedoch wieder fallengelassen, das heißt, darauf verzichtet hat (siehe auch § 399 ZPO), ist dagegen neu. Die bloße Nichtzahlung eines geforderten Vorschusses kann allerdings grundsätzlich nicht als Verzicht auf das betroffene Beweismittel angesehen werden, weshalb dieses grundsätzlich auch im Berufungsrechtszug nicht als neu anzusehen ist. Das zweitinstanzliche Bestreiten in erster Instanz unstreitig gestellter Umstände ist dagegen ebenfalls ein neues Verteidigungsmittel.
Rz. 149
Maßgebend für die Beurteilung, ob neues Vorbringen vorliegt oder nicht, ist grundsätzlich der Tatbestand des angefochtenen Urteils. Denn der Tatbestand liefert den Beweis für das Vorbringen der Parteien in der mündlichen Verhandlung einschließlich der im Tatbestand in Bezug genommenen Schriftsätze. Zum Tatbestand gehören auch tatsächliche Feststellungen, die sich in den Entscheidungsgründen finden (§ 314 S. 1 ZPO). Die Beweiskraftwirkung gilt auch für die in der mündlichen Verhandlung abgegebenen prozessualen Erklärungen der Parteien. Dieser Beweis kann nur durch das Sitzungsprotokoll entkräftet werden (§ 314 S. 2 ZPO). Die Entkräftung setzt voraus, dass die Feststellungen in der Sitzungsniederschrift ausdrücklich oder doch unzweideutig dem Tatbestand widersprechen. Bei einem Widerspruch zwischen dem Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze und der Wiedergabe des Parteivorbringens im Urteilstatbestand sind die Ausführungen im Tatbestand maßgeblich.
Rz. 150
Die Unrichtigkeit des Tatbestandes kann nur durch eine – fristgerecht zu beantragende – Tatbestandsberichtigung durch das erstinstanzliche Gericht beseitigt werden (§ 320 ZPO). Wird im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils ein Tatsachenvortrag der Parteien als unstreitig bezeichnet, so hat das Berufungsgericht davon auszugehen, dass das entsprechende Vorbringen in erster Instanz nicht bestritten wurde. Die Beweiskraft des Tatbestands entfällt allerdings, wenn eine Berichtigung aus Gründen, die die Partei nicht zu vertreten hat, nicht (mehr) möglich ist. Eine Bindungswirkung besteht auch dann nicht, wenn der Tatbestand in sich oder aufgrund einer Bezugnahme auf konkretes Parteivorbringen widersprüchlich oder unklar ist. Dabei reicht es aus, dass sich die Widersprüche oder Unklarheiten aus tatsächlichen Angaben in den Entscheidungsgründen ergeben, soweit diese zum Tatbestand im Sinne von § 314 S. 1 ZPO zu rechnen sind (siehe oben Rdn 149). Lassen sich Mängel des Tatbestands dagegen nur durch Rückgriff auf die – gem. § 313 Abs. 2 S. 2 ZPO allgemein in Bezug genommenen – vorbereitenden Schriftsätze darstellen, bleibt es bei der Beweiswirkung des § 314 ZPO und dem Grundsatz, dass der durch den Tatbestand des Urteils gelieferte Beweis nur durch das Sitzungsprotokoll entkräftet werden kann. Wurde in erster Instanz im schriftlichen Verfahren (§ 128 Abs. 2 und 3 ZPO) oder nach Lage der Akten (§§ 251a, 331a ZPO) entschieden, erstreckt sich die Beweiskraft des Tatbestandes allenfalls auf das Parteivorbringen, das Gegenstand einer früheren mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Rz. 151
Die Unvollständigkeit des Tatbestands kann dagegen – unabhängig von einer ebenfalls möglichen Tatbestandsberichtigung – als Verfahrensfehler (§ 529 Abs. 2 S. 1 ZPO) gerügt werden. Denn eine negative Beweiskraft dafür, dass schriftsätzlich angekündigtes, im Tatbestand aber unerwähnt gebliebenes Vorbringen ni...