Rz. 158
Vom Gericht des ersten Rechtszugs erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO) worden sind Gesichtspunkte insbesondere dann, wenn das Berufungsgericht eine materiell-rechtlich abweichende Beurteilung zugrunde legt. Ob ein neues Angriffs- oder Verteidigungsmittel schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können, ist dabei unbeachtlich. Denn die Prozessparteien sollen nicht gezwungen werden, in der ersten Instanz vorsorglich auch solche Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzutragen, die vom Standpunkt des erstinstanzlichen Gerichts unerheblich sind. Der Zulassungsgrund kommt jedoch nur dann zum Tragen, wenn der von dem neuen Vorbringen betroffene Gesichtspunkt in erster Instanz entweder von allen Verfahrensbeteiligten übersehen worden ist oder wenn das erstinstanzliche Gericht ihn für unerheblich gehalten hat: Die Rechtsansicht des Gerichts muss also den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei beeinflusst haben und daher, ohne dass deswegen ein Verfahrensfehler gegeben wäre, (mit-)ursächlich dafür geworden sein, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert.
Rz. 159
Diese Voraussetzung ist jedoch (schon) dann erfüllt, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs die Partei durch seine Prozessleitung oder seine erkennbare rechtliche Beurteilung des Streitverhältnisses davon abgehalten hat, zu bestimmten Gesichtspunkten (weiter) vorzutragen. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. So kann das Gericht eine Partei etwa durch die Erteilung von Hinweisen veranlassen, in erster Instanz von weiterem Vorbringen abzusehen. Das erstinstanzliche Gericht kann aber auch durch das Unterlassen von Hinweisen den Eindruck erwecken, der bisherige Parteivortrag sei ausreichend. Eine fehlerhafte Rechtsauffassung des erstinstanzlichen Gerichts ist deshalb auch dann zumindest mitursächlich geworden, wenn dieses, hätte es die später vom Berufungsgericht für zutreffend erachtete Rechtsauffassung geteilt, zu einem Hinweis verpflichtet gewesen wäre (§ 139 Abs. 2 ZPO). Ebenfalls ausreichend ist es, wenn das erstinstanzliche Gericht dem Beklagten durch seine Vorgehensweise die von diesem angestrebte Möglichkeit nimmt, durch eine "Flucht in die Säumnis" dessen bis dahin fehlendes Vorbringen in der Einspruchsschrift (§ 340 ZPO) und damit noch vor Abschluss der ersten Instanz nachzuholen. Dass eine Partei Sachvortrag aus Gründen unterlassen hat, die eine Nachlässigkeit im Sinne von § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO (siehe unten Rdn 164 ff.) darstellt, schließt eine Zulassung neuen Vorbringens nach § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO nicht aus.
Rz. 160
Auch wenn eine Partei im Verlauf eines erstinstanzlichen Beweisaufnahmetermins im Hinblick darauf auf einen geladenen und erschienenen (Gegen-)Zeugen verzichtet hat, dass es nach der Art der Prozessleitung des Gerichts und nach dem bisherigen Beweisergebnis auf dessen Aussage nicht (mehr) ankam, so darf das Berufungsgericht, das die Rechts- und Beweislage anders sieht als die Vorinstanz, den betreffenden, in der Berufung erneuerten Beweisantritt nicht zurückweisen. Ebenso können noch Gegenrechte vorgebracht werden, deren Geltendmachung die Partei erst im Hinblick auf den neuen Gesichtspunkt für notwendig erachtet.
Rz. 161
Das Berufungsgericht muss seine abweichende Rechtsauffassung offenlegen und den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme – einschließlich – ergänzendem Sachvortrag geben (§§ 525 S. 1, 139 ZPO). Denn der in erster Instanz siegreiche Berufungsbeklagte darf darauf vertrauen, nicht nur rechtzeitig darauf hingewiesen zu werden, dass und aufgrund welcher Erwägungen das Berufungsgericht der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will, sondern muss dann auch Gelegenheit zu erhalten, seinen Tatsachenvortrag sachdienlich zu ergänzen oder weiteren Beweis anzutreten. Das Gericht wiederum muss sachdienlichen Vortrag der Partei auf einen nach der Prozesslage gebotenen Hinweis nach § 139 ZPO zulassen; die Hinweispflicht des Berufungsgerichts und die Berücksichtigung neuen Vorbringens gehören insoweit zusammen. Neues Vorbringen des Berufungsbeklagten, das auf einen solchen Hinweis des Berufungsgerichts erfolgt und den Prozessverlust wegen einer von der ersten Instanz abweichenden rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht vermeiden soll, ist zuzulassen, ohne dass es darauf ankommt, ob es schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können.
Rz. 162
Wenn das Gericht des ersten Rechtszugs, hätte es die später vom Berufungsgericht für zutreffend erachtete Rechtsauffassung geteilt, zu einem Hinweis (§ 139 ZPO) verpflichtet gewesen wäre, ist nämlich davon auszugehen, dass sich durch die Rechtsauffassung des erstinstanzlichen Gerichts das Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert hat (siehe dazu oben Rdn 158). Allerdings bedarf es trotz günstiger erstinstanzlicher Entscheidung keines gerichtlichen Hinweises an eine Partei, wenn zwischen den Parteien in ...