Rz. 164
Schließlich kann neues Vorbringen zugelassen werden, dessen unterbliebene Geltendmachung weder auf Fehlern des Gerichts (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und 2 ZPO) noch auf einer Nachlässigkeit der Partei (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO) oder ihres Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) beruht. Eine Nachlässigkeit liegt vor, wenn die Partei gegen ihre Prozessförderungspflicht verstoßen hat, aufgrund derer sie zu konzentrierter Verfahrensführung gehalten ist. Ausgeschlossen sind damit insbesondere diejenigen tatsächlichen Umstände, die in erster Instanz nicht vorgebracht wurden, obwohl der Partei diese Umstände und deren Bedeutung für den Ausgang des Rechtsstreits bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Erstgericht bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen.
Rz. 165
Erst nach der mündlichen Verhandlung in erster Instanz neu entstandene Tatsachen – auch neu entstandene Beweismittel – können daher grundsätzlich ohne Einschränkung (zur Ausübung von Gestaltungsrechten siehe unten Rdn 168) vorgetragen werden.
Rz. 166
Jede Partei ist grundsätzlich gehalten, schon im ersten Rechtszug die Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzubringen, deren Relevanz für den Rechtsstreit ihr bekannt ist oder bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt hätte bekannt sein müssen und zu deren Geltendmachung sie dort imstande ist. Sorgfaltsmaßstab ist dabei die einfache Fahrlässigkeit (§ 276 Abs. 2 BGB). Bei einer in erster Instanz anwaltlich nicht vertretenen Partei sind regelmäßig geringere Anforderungen an die verkehrsübliche Sorgfalt zu stellen.
Rz. 167
Vorbringen darf nicht aus prozesstaktischen Erwägungen zurückgehalten werden. Wer ein Beweismittel zu einem zentralen Punkt des Rechtsstreits bewusst zurückhält, um erst einmal abzuwarten, zu welchem Ergebnis die Erhebung der bisher angebotenen Beweise führt, verstößt in grober Weise gegen die allgemeine Prozessförderungspflicht des Zivilprozesses. Unabhängig vom Antrag auf Zeugenvernehmung und einem etwaigen Ergebnis der diesbezüglichen Beweisaufnahme muss daher auch der Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens bereits erstinstanzlich erfolgen. Erklärt sich die Partei im ersten Rechtszug mit der urkundsbeweislichen Verwertung schriftlich vorliegender Zeugenerklärungen zu einem Verkehrsunfall einverstanden, so ist sie im Berufungsverfahren mit dem Antrag, die Zeugen gerichtlich vernehmen zu lassen, ausgeschlossen. Auch die in erster Instanz unterbliebene Einzahlung eines Auslagenvorschusses, die zur Nichterhebung des angebotenen Beweismittels geführt hat, stellt sich – bei Erkennbarkeit der Entscheidungserheblichkeit bei ordnungsgemäßer Sorgfalt – als nachlässig dar.
Rz. 168
Die berufungsrechtlichen Präklusionsvorschriften sollen die Partei jedoch nur anhalten, zu einem bereits vorliegenden und rechtlich relevanten Tatsachenstoff rechtzeitig vorzutragen. Sie haben nicht den Zweck, auf eine beschleunigte Schaffung der materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen – auch durch eine Veränderung der Rechtslage – hinzuwirken. Der Vortrag einer Partei, dass ein Gestaltungsrecht erst nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung ausgeübt worden ist, ist daher in der Berufungsinstanz grundsätzlich unabhängig von den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO sowie unabhängig davon, ob die Erklärung des Gestaltungsrechts als solche von der Gegenseite bestritten wird oder – was der Regel entsprechen dürfte – zwischen den Parteien unstreitig ist, zu berücksichtigen.
Rz. 169
Macht eine Partei demnach zulässigerweise erst nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung von einem Gestaltungsrecht Gebrauch, begründet es ferner auch keine Nachlässigkeit, dass sie zu den (weiteren) tatbestandlichen Voraussetzungen des betreffenden Gestaltungsrechts erstmals in der Berufungsinstanz vorträgt. Denn es kann einer Partei nicht als Verstoß gegen ihre Prozessförderungspflicht angelastet werden, dass sie in erster Instanz zu einem bis dahin noch gar nicht ausgeübten Gestaltungsrecht nicht näher vorgetragen hat. Auch bei einem nach Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgten Rechtserwerb – im Wege der Abtretung oder durch Pfändungs- und Überweisungsbeschluss – greift eine Präklusion (zur erforderlichen Geltendmachung der Beschwer aufgrund der angefochtenen Entscheidung siehe oben Rdn 31) nicht ein, da der Rechtserwerb hier nicht allein vom Willen der Partei abhängt.
Rz. 170
Auch begründen die Präklusionsvorschriften keine grundsätzliche Verpflichtung der Partei, tatsächliche Umstände, die ihr nicht bekannt sind, zu ermitteln. Eine solche Pflicht kann vielmehr nur durch besondere Umstände begründet werden. Ohne nähere Anhaltspunkte müssen daher beispielsweise die Partei und ihr Prozessbevollmächtigter nicht eine ins Einzelne gehende Sichtung umfangreicher Ermittlungsakten vornehmen. Das Unterlassen naheliegender Erkundigungen – beispielsweise nach unschwer ermittelbaren Zeugen für das b...