Sabine Jungbauer, Dipl.-Ing. Werner Jungbauer
Rz. 65
Zu Recht sprechen sich Hettenbach und Müller dafür aus, dass die Überreichung eines Schriftsatzes im Termin nicht "per se" eine Missachtung von Gericht und Gegner darstellt, sondern vielmehr zulässiges prozesstaktisches Mittel für Klageerweiterungen und Widerklagen sind, sowie zudem materiell-rechtlich auch zur Ausübung von Gestaltungsrechten dient.
Rz. 66
Fraglich ist allerdings, inwieweit diese Übergabe eines schriftlichen Dokuments mit § 130d ZPO korrespondiert oder kollidiert. So wird denn auch die parallele elektronische Einreichung aus dem Gerichtssaal heraus durch Anruf im Anwaltsoffice als wenig praktikabel konstatiert. Ob aber die Überreichung eines Papierdokuments mit der "vorübergehenden technischen Störung" nach § 130d S. 2 ZPO gerechtfertigt werden kann, daran zweifeln auch die Autoren selbst, zumal die Glaubhaftmachung ja zeitgleich erfolgen müsste/sollte. So kommen die Autoren auch zum Ergebnis, dass die Überreichung eines Papier-Schriftsatzes im Termin, gestützt auf § 130d S. 2 ZPO, "in aller Regel" unzulässig sein wird. Dieser Auffassung ist auch nach unserer Meinung zu folgen.
Rz. 67
Die Autoren des gut ausgearbeiteten Aufsatzes kommen zum Ergebnis, dass sich eine Lösung aus § 130d S. 1 ZPO unmittelbar ergeben müsste, da umstritten sei, ob im Termin überreichte Schriftsätze als "vorbereitende" Schriftsätze im Sinne der Vorschrift zu verstehen seien, und umstritten sei, ob die §§ 129 ff. ZPO zur Anwendung kommen (Bezugnahme auf den Schriftsatz nach § 137 Abs. 3 ZPO auch in solchen Fällen möglich, oder nicht?); wobei die Praxis diese Vorgehensweise in der Regel in der Vergangenheit zugelassen hat und die Rechte des Gegners durch Einräumung einer Schriftsatzfrist gem. § 283 ZPO oder Vertagung des Termins gem. § 227 ZPO gewahrt wurden.
Rz. 68
Problematisch ist unseres Erachtens diese Sichtweise allerdings, wenn es sich um bestimmende Schriftsätze wie eine Klageerweiterung handelt, für die die Vorschriften über vorbereitende Schriftsätze angewendet werden.
Rz. 69
Schließlich kommen die Autoren zum Schluss, dass der Wille des Gesetzgebers und damit nach dem Sinn des Gesetzes die Überreichung schriftlicher Papierdokumente im Termin zulässig sein müsste. Ob dies auch Gerichte so sehen, bleibt abzuwarten. Es steht zu befürchten, dass diese für Gerichte häufig "unliebsame Praxis" durch den Wortlaut des Gesetzes ausgehebelt wird und eine teleologische Auslegung von § 130d S. 1 ZPO nicht erfolgen wird, auch wenn Hettenbach/Müller ihre Auffassung sehr dezidiert mit der Entstehungsgeschichte und dem Gesetzgebungsverlauf begründen.
Rz. 70
Und leider muss man hier auch mit Anwälten rechnen, die im Interesse ihres Mandanten darum kämpfen werden, notfalls über ein Berufungsverfahren, dass diese Auslegung einen angreifbaren Verfahrensfehler darstellt.
Rz. 71
Insofern möchten wir aber der Auffassung von Hettenbach/Müller ausdrücklich folgen, dass die "Digitalisierung von Gerichtsverfahren nicht Selbstzweck" ist, sondern "stets mit den Verfahrensrechten der Parteien und sonstigen Prozessbeteiligten in Einklang zu bringen" ist.
Rz. 72
Die Frage bleibt am Ende, wie denn – zur Vermeidung von Problemen für die Partei (wer will schon Präzedenzfall sein?) in solchen Fällen in Zukunft verfahren werden kann. Im Zweifel ist dem Gericht anzubieten, den Inhalt des Schriftsatzes vorzulesen und sich für die Mündlichkeit (nicht Schriftlichkeit, die dann elektronische Einreichung bedeutet) zu entscheiden, § 160 Abs. 2, 3 u. 4 ZPO. Lehnt das Gericht den Antrag, diese wesentlichen Vorgänge und Anträge in das Protokoll aufzunehmen, ab, hat es die Ablehnung in das Protokoll aufzunehmen, § 160 Abs. 4 S. 4 ZPO. In der Praxis dürfte ein solcher Antrag ("Haben Sie alle etwas Zeit mitgebracht, ich würde gerne meinen Schriftsatz verlesen; dies kann jedoch 20 Minuten dauern.") wohl dazu führen, dass Gerichte Schriftsatzfristen nachlassen, § 283 ZPO. Zumindest wäre es im Fall der Verlesung vorteilhaft, wenn der Schriftsatz nach dem Motto abgefasst ist: "In der Kürze liegt die Würze.". Auch eine Flucht in die Säumnis (wegen der Nachteile siehe Rdn 52) oder eine Flucht in die Widerklage könnten probate Mittel sein, eine Präklusion zu umgehen. Ein Vertagungs- oder Verlegungsantrag dürfte dann erfolgversprechend sein, wenn die Partei ohne ihr Verschulden gehindert war, rechtzeitig vorzutragen. Im Hinblick auf die geplante Modernisierung des Zivilprozesses und die Überlegungen dahingehend, schriftsätzlichen Vortrag im Hinblick auf den Tatbestand durch ein Basisdokument (Relationstabelle) zu ersetzen, bleibt das Thema weiter spannend.
Rz. 73
Wünschenswert wäre es, wenn der Gesetzgeber Ausnahmen vom Erfordernis der elektronischen Einreichung gesetzlich normiert und die Auslegung des § 130d ZPO nicht den Prozessparteien und Gerichten überlässt.