Sabine Jungbauer, Dipl.-Ing. Werner Jungbauer
1. Verletzung einer Kernpflicht
Rz. 23
Nachdem sowohl die Mitteilungen der BRAK als auch der örtlichen Rechtsanwaltskammern sowie die gesamte Fachpresse einschließlich der zur Lektüre vom BGH ausdrücklich empfohlenen NJW "voll" von Hinweisen, Beiträgen und Aufsätzen auf das beA sind, und ein Anwalt sich darüber hinaus regelmäßig auch über Entwicklungen von berufsrechtlichen Themen zu informieren hat, stellt unseres Erachtens die dauerhafte (auch "versehentliche") Missachtung der passiven Nutzungspflicht eine Verletzung der Kernpflichten eines Anwalts dar. Denn letztendlich ist es der Mandant, der bei Missachtung der Eingangspost in seiner Sache erhebliche Nachteile bis hin zum Rechteverlust erleiden kann.
2. Folgen der Missachtung der passiven Nutzungspflicht
a) Berufsrechtliche Konsequenzen
Rz. 24
Wird die passive Nutzungspflicht missachtet, kann es geschehen, dass
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Beitragsbescheide der RAK, |
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Stellungnahmeaufforderungen der RAK zu Beschwerden von Kollegen oder Mandanten und |
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Mitteilungen der RAK/BRAK |
nicht zur Kenntnis genommen werden und entsprechende berufsrechtliche Folgen nach sich ziehen. Fehlende Reaktionen auf weitere Schreiben der RAK können zu verschärften Sanktionen führen.
Rz. 25
Aber auch wenn sich Mandanten, Anwaltskollegen, Notare, Justizbehörden oder andere Kommunikationspartner bei der RAK darüber beschweren, dass ein Anwalt auf seine beA-Posteingänge nicht reagiert, ist davon auszugehen, dass die örtlichen Kammern entsprechend empfindlich reagieren (müssen). Die möglichen anwaltsgerichtlichen Konsequenzen ergeben sich aus § 114 BRAO; sie reichen von der Warnung bis hin zur Ausschließung aus der Anwaltschaft.
Rz. 26
Nach Ansicht des AnwG Nürnberg rechtfertigt die Verletzung der anwaltlichen Pflicht, Zustellungen und den Zugang von Mitteilungen über das besondere elektronische Anwaltspostfach zur Kenntnis zu nehmen, einen Verweis und eine nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen zu bemessende Geldbuße; hier 3.000 EUR. Hervorzuheben ist, dass die hier betroffene Anwältin bis zur Verhängung der Geldbuße weder berufs- noch strafrechtlich in Erscheinung getreten war.
b) Versicherungsrechtliche Folgen
Rz. 27
Eine Missachtung der berufsrechtlichen Pflichten kann im Haftungsfall zur Leistungsfreiheit des Haftpflichtversicherers führen, denn i.d.R. ist eine Haftungsübernahme bei Verletzung von anwaltlichen Kernpflichten vertraglich ausgeschlossen; vgl. dazu auch §§ 6 Abs. 3, 62 Abs. 2, 58 VVG, 6 AVB. Zumindest kann in der Missachtung auch eine grobe Obliegenheitsverletzung des versicherten Anwalts bzw. der versicherten Berufsausübungsgesellschaft gesehen werden.
Rz. 28
Ausgeschlossen ist ein Eintritt der Haftpflichtversicherung auch bei einer vorsätzlichen und widerrechtlichen Herbeiführung eines Versicherungsfalls gem. § 103 VVG, die im Gegensatz zur wissentlichen Pflichtverletzung erschwerend noch den Vorsatz der Schädigung des Mandanten beinhaltet.
Rz. 29
Hinweis am Rande
Zu beachten sind zudem die neuen Versicherungspflichten auch konkret für Berufsausübungsgesellschaften, siehe dazu § 59n BRAO n.F. zum 1.8.2022. Viele Kanzleien mussten ihren Versicherungsschutz bzw. die Versicherungssumme anpassen.
Rz. 30
Berufsausübungsgesellschaften sind seit dem 1.8.2022 verpflichtet, die Einhaltung der Berufspflichten ihrer Gesellschafter zu überwachen. § 59d Abs. 5 BRAO bestimmt zu diesem Datum, dass vertraglich geregelt werden muss, dass Gesellschafter, die in schwerwiegender Weise oder wiederholt gegen Pflichten der BRAO oder BORA verstoßen, aus der Berufsausübungsgesellschaft auszuschließen sind, vgl. dazu aber auch die Ausführungen unter § 5 Rdn 83 ff. in diesem Werk.
c) Prozessuale Folgen und Schadenersatz
Rz. 31
Wird die passive Nutzungspflicht missachtet, kann dies zu unterschiedlichen prozessualen Konsequenzen führen (nur beispielhaft und nicht abschließend):
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Übersehen einer Zustellungsfiktion (§§ 189 ZPO, 193a ZPO) mit den sich aus der Zustellung ergebenen Folgen (Fristenlauf etc.) |
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Zustimmungsfiktion bei Klagerücknahme oder Hauptsacheerledigung bei fehlendem Widerspruch (§§ 269 Abs. 3, 91a Abs. 1 ZPO) |
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Versäumung von richterlichen und gesetzlichen prozessualen Fristen mit der Folge der Präklusion |
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Versäumung von anberaumten Terminen mit der Folge z.B. eines Versäumnisurteils |
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Übersehen eines befristeten Vergleichsangebots der Gegenseite |
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Übersehen einer Ladung und Verpassen des Termins (Säumnis) |
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Übersehen einer Mandatskündigung (z.B. durch neuen Anwalt der Partei) und Ergreifung weiterer Maßnahmen in Unkenntnis der Mandatskündigung |
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Übersehen von richterlichen Verfügungen zur Substantiierung des Sachvortrags (Präklusion) |
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Übersehen einer Fristsetzung zur Abgabe von strafbewehrten Unterlassungserklärungen durch den Mandanten und daraufhin anschließender einstweiliger Verfügungsantrag (so auch bei Aufforderung... |