Chr. Hendrik Scholz, Dr. Tina Witten
Rz. 103
Auch wenn dringende betriebliche Erfordernisse gegeben sind, ist die Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie gegen die Grundsätze der Sozialauswahl verstößt. Denn nach der gesetzgeberischen Wertung des § 1 Abs. 3 KSchG ist nicht der Arbeitnehmer zu kündigen, dessen konkreter Arbeitsplatz weggefallen ist, sondern derjenige, der sozial am wenigsten schutzwürdig ist.
Die Sozialauswahl erstreckt sich auf alle vergleichbaren Arbeitnehmer eines Betriebes. Als vergleichbar werden alle Arbeitnehmer angesehen, deren Arbeitsaufgaben dem an sich zu kündigenden Arbeitnehmer einseitig im Wege des Direktionsrechts zugewiesen werden können, ohne dass es hierfür einer Änderung des Arbeitsvertrages bedarf. Entscheidend für die Bestimmung der Vergleichbarkeit ist insofern der Inhalt des Arbeitsvertrages. Eine Vergleichbarkeit besteht nur auf derselben Ebene der Betriebshierarchie (sog. horizontale Vergleichbarkeit). Grundsätzlich nicht vergleichbar und daher nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen sind Arbeitnehmer, die gesetzlich ordentlich unkündbar sind (z.B. Betriebsratsmitglieder nach § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG, Wehrpflichtige nach § 2 Abs. 1 ArbPlSchG) sowie Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz (z.B. Schwerbehinderte, Schwangere, Arbeitnehmer in Elternzeit), sofern nicht bereits die Zustimmung der zuständigen Behörde erteilt ist oder bis zur Erklärung der Kündigung vorliegt.
Die bei der Sozialwahl anzuwendenden vier Kriterien sind in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG abschließend festgelegt. Zu berücksichtigen sind danach die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und eine Schwerbehinderung. Eine Gewichtung dieser Kriterien ist nicht vorgeschrieben. § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG verlangt nur, dass die Kriterien ausreichend berücksichtigt werden. Dem Arbeitgeber kommt insofern ein Wertungsspielraum zu. Im Kündigungsschutzprozess prüfen die Gerichte nur, ob die Entscheidung vertretbar ist; die Auswahlentscheidung des Arbeitgebers muss nicht der entsprechen, die das Gericht getroffen hätte.
Außerdem ist dem Arbeitgeber durch § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG die Möglichkeit eröffnet, einzelne Arbeitnehmer, deren Weiterbeschäftigung insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt, aus der Sozialauswahl herauszunehmen. Hierbei handelt es sich allerdings um eine Ausnahmeregelung. Nimmt der Arbeitgeber den überwiegenden Teil der Arbeitnehmer wegen besonderer Kenntnisse aus der Sozialauswahl aus, so spricht eine Vermutung dafür, dass soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Ein berechtigtes betriebliches Interesse an der Weiterbeschäftigung bestimmter Arbeitnehmer ist gerichtlich voll überprüfbar.
Für eine ordnungsgemäße Sozialauswahl gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Zwar sieht das Kündigungsschutzgesetz in § 1 Abs. 3 S. 1 vor, dass der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, dass soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Allerdings kommt der Arbeitnehmer seiner Darlegungslast bereits nach, wenn er pauschal die Sozialauswahl als fehlerhaft rügt und den Arbeitgeber auffordert, die Gründe mitzuteilen, die ihn zu der Auswahl veranlasst haben. Mit diesem Auskunftsverlangen geht die Darlegungslast auf den Arbeitgeber über. Denn nach § 1 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 KSchG hat der Arbeitnehmer einen Auskunftsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber auf Mitteilung der Gründe, die zu der getroffenen Sozialauswahl geführt haben. Auf ein entsprechendes Auskunftsverlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber die Gründe darzulegen, die ihn zu der von ihm getroffenen Auswahl veranlasst haben. Als Auskunftsverlangen ist nach der Rechtsprechung des BAG jeder Vortrag des Arbeitnehmers anzusehen, der die Erwartung erkennen lässt, zunächst möge der Arbeitgeber die von ihm für maßgeblich gehaltenen Gründe für die soziale Auswahl nennen. Der Arbeitgeber hat daraufhin darzulegen, welche Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einbezogen worden sind (Vergleichsgruppenbildung), welche sozialen Gesichtspunkte zugrunde gelegt und wie sie bewertet worden sind. Beruft sich der Arbeitgeber auf die Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG, weil er einzelne Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl ausnimmt, so muss er im Einzelnen darlegen, welche konkreten Nachteile sich ergeben würden, wenn er die zu kündigenden Arbeitnehmer allein nach dem Maßstab des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG auswählen würde.
Rz. 104
Erleichterungen der Darlegungslast für den Arbeitgeber ergeben sich, wenn der Sozialauswahl Auswahlrichtlinien oder ein Interessenausgleich mit Namensliste zugrunde liegen. Nach § 1 Abs. 4 KSchG können tarifvertraglich oder in einer Betriebsvereinbarung festgelegte Auswahlrichtlinien, die die Gewichtung der sozialen Gesichtspunkte zueinander festlegen, nur auf grobe Fehlerhaftigkeit...